Fragwürdige Experimente am Menschen
Der Chirurg Jochen Lange vom St. Galler Kantonsspital behandelte Krebspatienten seit Jahren mit nicht erprobten Methoden. Kein Einzelfall: Patienten in klinischen Versuchen sind kaum geschützt.
Inhalt
Gesundheitstipp 1/2005
19.01.2005
Sonja Marti - smarti@pulstipp.ch
Kantonsspital St. Gallen: Auf dem Operationstisch, unter einer Decke, liegt der Patient. Sichtbar ist nur seine weit geöffnete Bauchhöhle. Die Wundränder weit auseinander gespreizt und an einen Metallrahmen genäht. Unzählige dicke Schläuche führen in den Bauch. Durch sie wird eine 42 Grad warme Lösung mit Krebsmedikamenten gepumpt. Mit den Händen mischt und verteilt der Chirurg die Flüssigkeit in der Bauchhöhle. Eine riesige Gasmaske verdeckt sein Gesicht, denn die Medikamentendämpfe...
Kantonsspital St. Gallen: Auf dem Operationstisch, unter einer Decke, liegt der Patient. Sichtbar ist nur seine weit geöffnete Bauchhöhle. Die Wundränder weit auseinander gespreizt und an einen Metallrahmen genäht. Unzählige dicke Schläuche führen in den Bauch. Durch sie wird eine 42 Grad warme Lösung mit Krebsmedikamenten gepumpt. Mit den Händen mischt und verteilt der Chirurg die Flüssigkeit in der Bauchhöhle. Eine riesige Gasmaske verdeckt sein Gesicht, denn die Medikamentendämpfe sind gefährlich.
Der Chirurg heisst Jochen Lange. Rund 20 Patienten behandelte er seit 1997 am Kantonsspital St. Gallen mit HIIC - der hyperthermen intraoperativen intraperitonealen Chemotherapie.
Doch diese Methode ist noch zu wenig erforscht, um sie an allen Patienten anzuwenden. Dies sagt auch Martin Fey, Krebsspezialist am Inselspital Bern: «Die HIIC sollte nur im Rahmen sorgfältig kontrollierter klinischer Studien gemacht werden.»
Experimente an Menschen sind nicht verboten
Bevor ein Arzt eine solche Studie startet, muss die örtliche Ethikkommission sie prüfen und bewilligen. Ebenso die Schweizer Arzneimittelbehörde Swissmedic - falls Medikamente im Spiel sind. Doch Jochen Lange hat nie ein Gesuch für eine HIIC-Studie eingereicht - weder bei der Swissmedic noch bei der St. Galler Ethikkommission. Das bestätigt die Kommission in einem Schreiben, das dem Pulstipp vorliegt.
Zwar ist es in der Schweiz einem Arzt nicht verboten, eine noch kaum erforschte Methode auch ausserhalb einer klinischen Studie an einzelnen Patienten auszuprobieren. Experten sprechen dann von einem Therapieversuch mit einer experimentellen Methode. Doch selbst dann hätte Chirurg Lange die St. Galler Ethikkommission über sein Vorhaben informieren sollen. Das bestätigt Robert Kenzelmann vom Schweizerischen Heilmittelinstitut Swissmedic, zuständig für klinische Versuche und Sonderbewilligungen.
Auch Hans Kummer, Präsident der Ethikkommission beider Basel, kritisiert: «Lange hätte den Versuch von der Ethikkommission beurteilen lassen sollen. Besonders, falls er dabei Medikamente verwendet hat, die in dieser Form oder Dosis nicht bei Swissmedic registriert sind.»
Noch gravierender sei die Tatsache, dass Jochen Lange die neue Behandlungsart nicht im Rahmen einer Studie, sondern «von Fall zu Fall an Einzelpersonen ausprobiert». Hans Kummer: «Das verzögert die wissenschaftliche Erkenntnis, ob die neue Methode den Patienten wirklich etwas bringt oder nicht.»
Patienteninformation mit gravierenden Mängeln
Patienten, die bei einer Studie mitmachen, müssen zuerst vom Arzt genau informiert werden - sowohl mündlich als auch in einer schriftlichen Patienteninformation. Diese umfasst unter anderem Details über Behandlung, Risiken und Dauer des Versuchs. Zudem muss der Patient unterschreiben, dass er mit dem Versuch einverstanden ist.
Eine solche Patienteninformation von Jochen Langes Abteilung am Kantonsspital St. Gallen liegt dem Pulstipp vor. Darin steht, dass bei Patienten eine HIIC «im Rahmen einer Studie der Klinik für Chirurgie» durchgeführt werde. Doch das Dokument hat gravierende Mängel. So muss eine Patienteninformation den international geltenden Richtlinien der «Good Clinical Practice» entsprechen.
Robert Kenzelmann von Swissmedic meint dazu: «Das Dokument erfüllt diese Vorgaben in keiner Weise - verschiedene wichtige Kriterien fehlen.» Deshalb sei es «revisionsbedürftig». So fehlen zum Beispiel Hinweise darauf, dass
- die Teilnahme an der Studie freiwillig ist,
- persönliche Daten vertraulich behandelt werden,
- ein Versicherungsschutz besteht, falls dem Patienten ein Schaden entsteht.
Jochen Lange will zu keinem der Kritikpunkte Stellung nehmen. Der Grund dafür, so lässt er seine Anwältin Suzanne Bühler-Aebi ausrichten: Die HIIC-Behandlungen seien «Bestandteil eines laufenden Verfahrens».
Jochen Lange geriet schon vor sieben Jahren unter massive Kritik. Damals behandelte der Chirurg eine 52-jährige Patientin mit einer Methode, die zuvor nur im Labor an Ratten ausprobiert worden war:
Lange liess sich eine Flüssigkeit mischen, in der mehrere Gramm des Farbstoffs Methylenblau gelöst waren.
Wie giftig der Stoff auf den Menschen wirkt, weiss bis heute niemand genau. Doch Lange spülte damit den Bauch seiner Patientin, um Verwachsungen vorzubeugen. Die Patientin wachte nach der riskanten Operation nicht mehr auf. Fünf Tage lag sie im Koma - dann starb sie. Gegen Lange läuft deshalb ein Strafverfahren.
Rudolf Froesch, ehemaliger Präsident der Zürcher Ethikkommission, kritisiert Langes Vorgehen scharf: «Er hat das Experiment durchgeführt, ohne vorher abzuklären, wie giftig Methylenblau ist.» Das sei zu verurteilen. Der Arzt habe «die nötigen Vorsichtsmassnahmen zum Schutz der Patientin ausser Acht gelassen». Für Froesch ist es «höchst wahrscheinlich», dass die Patientin an einer akuten Vergiftung durch Methylenblau gestorben ist.
Dem widerspricht Jochen Langes Anwältin Suzanne Bühler-Aebi: «Mehrere Gutachten haben gezeigt, dass ein Zusammenhang zwischen der Bauchspülung mit Methylenblau und dem Tod der Patientin ausgeschlossen ist.» Zu den anderen Punkten gibt sie keine Auskunft. Auch hier lautet die Begründung: Es handle sich um ein laufendes Verfahren.
Jochen Langes fragwürdiges Vorgehen ist kein Einzelfall
Die Experimente von Chirurg Lange sind aber kein Einzelfall. Immer wieder gibt es in der Schweiz massive Probleme bei medizinischen Versuchen an Menschen:
- Bei einer Studie des Universitätsspitals Zürich zu einer Impftherapie gegen Hautkrebs mussten Patienten die Behandlung selber bezahlen. Klinische Versuche sind aber für Patienten grundsätzlich gratis (siehe Puls-Tipps).
- Ein Arzt überredete seinen Patienten zu einer neuartigen Bandscheibenoperation. Er verschwieg aber, dass die Methode erst in der Forschungsphase ist (siehe: «Arzt verschwieg den Menschenversuch»).
- Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) setzte Patienten unter Druck, damit sie die Ergebnisse einer neuartigen Röntgenuntersuchung für eine Studie freigaben: Machten sie nicht mit, mussten sie die teure Untersuchung selber bezahlen. Das BAG hat seinen Irrtum mittlerweile eingesehen und die Studie abgebrochen.
- Die Basler Forschungsfirma VanTx machte medizinische Versuche mit ausländischen Patienten, ohne sie richtig aufzuklären und nachzubetreuen. Zudem soll die Firma Patientendaten gefälscht haben.
Fachleute beurteilen solche Fälle als unhaltbar. Für Ruth Baumann-Hölzle, Leiterin von «Dialog Ethik» in Zürich, bewegen sich viele davon «in einem juristischen Graubereich». Für sie ist aber klar: «Es besteht dringend Handlungsbedarf.»
Denn heute gibt es in der Schweiz nur für klinische Versuche mit Medikamenten ein einheitliches Gesetz. Für alle anderen Forschungsbereiche - wie zum Beispiel Operationsmethoden - sind die Kantone zuständig. Der Bundesrat hat nun eine Fachgruppe beauftragt, ein Gesetz über die Forschung am Menschen auszuarbeiten.
Erika Ziltener, Präsidentin der Patientenstelle Zürich, hat klare Vorstellungen, was ins neue Gesetz gehört: «Patienten sollten grundsätzlich nicht von den an Forschungsprojekten beteiligten Personen ausgewählt und informiert werden.» Zudem brauche es unabhängige Anlaufstellen. «Diese sollen die Patienten bei einem Studienabbruch unterstützen und bei Problemen helfen.» Es sei wichtig, dass dies jemand mache, der kein direktes Interesse an dem Versuch habe.
Weiter fordert Ziltener, dass sämtliche Studien in einer Datenbank registriert würden. «So können die Verantwortlichen Studien mit schlechten Resultaten nicht einfach unter den Tisch wischen.»
Doch auch Ziltener ist sich bewusst: «Ein neues Gesetz hat nur Durchschlagskraft, wenn Verstösse für die Verantwortlichen auch ernsthafte Konsequenzen haben und eine wirksame Kontrolle möglich ist.»
Klinische Versuche: Ihre Rechte als Patient
Therapien und Medikamente müssen an Patienten erprobt werden, bevor sie auf den Markt kommen. Wenn Sie der Arzt fragt, ob Sie an einer Studie teilnehmen wollen, gilt Folgendes:
- Sie allein entscheiden, ob Sie mitmachen wollen oder nicht.
- Die Teilnahme ist freiwillig, gratis und an keine zusätzlichen Bedingungen geknüpft.
- Sie unterschreiben eine Einwilligung, die über Nutzen und Risiken des Versuchs informiert: Bewahren Sie das Schreiben gut auf.
- Zeit und Dauer der Studie erfahren Sie im Voraus.
- Sie dürfen den Versuch jederzeit und ohne Nachteile abbrechen.
- Fragen Sie nach dem Versicherungsschutz. Dieser ist wichtig, falls bei der Therapie etwas schief laufen sollte.
- Die für den Versuch verantwortliche Person muss Ihnen bekannt sein, ebenso die Ansprechperson und die Firma, die die Studie durchführt.
Quelle: Medizinischethische Richtlinie für Forschungsuntersuchungen am Menschen/ Dialog Ethik
Tom Hofmann, Zürich
Arzt verschwieg den Menschenversuch
«Gegen meine starken Bandscheibenschmerzen half nichts mehr. Da erzählte mir der Arzt von einer neuen, vielversprechenden Operation. Allerdings habe man noch wenig Erfahrung. Dass die Methode erst in der Forschungsphase ist, verschwieg er mir. Vielleicht hätte ich kritischer sein sollen. Aber ich hoffte, endlich schmerzfrei zu werden.
Es lief vieles schief: Ich musste dreimal unters Messer, bekam schwere Komplikationen. Ich wäre fast gestorben. Als mein Anwalt der Sache nachging, verlangte der Arzt plötzlich eine Bestätigung, dass ich gewusst hätte, dass die Operation im Rahmen einer Studie stattgefunden habe. Und dass er mich über alle Risiken informiert habe. Ich klagte gegen die Klinik und erhielt Schadenersatz.»
Margrit Ortu, Merligen BE
Neuartige Operation: Zu rasch zugesagt
«Ich hatte starke Rückenschmerzen wegen eines verengten Spinalkanals und kaputter Bandscheiben.
Der Arzt im Spital behauptete, es gebe nur noch eine Chance - sonst würde ich gelähmt. So liess ich mich überzeugen, bei einem Forschungsprojekt mitzumachen und mir eine neuartige künstliche Bandscheibe einpflanzen zu lassen.
Ich hatte viel zu wenig Zeit, mir die Entscheidung richtig zu überlegen. Nach der Operation gab es massive Komplikationen - und heute geht es mir kein bisschen besser als zuvor.
Patienten sollten es sich deshalb sehr gut überlegen, ob sie wirklich bei einer Studie mitmachen wollen und welche Folgen das haben kann.»
Liz und Willy Isler, Münchenstein BL
Unter Druck gesetzt, an der Studie teilzunehmen
«Ich habe Lungenkrebs und die Ärzte schickten mich zu einem PET. Das ist ein neuartiges Computertomogramm, mit dem man Metastasen früher und besser erkennen kann.
Mehrere Wochen nach der Untersuchung erhielt ich einen Brief. Inhalt: Ob ich freiwillig meine PET-Daten für eine Studie zur Verfügung stellen würde.
Allerdings stand in dem Schreiben auch, dass die Krankenkasse die bereits gemachte PET-Untersuchung nur dann bezahle, wenn ich an der Studie teilnehme.
So zwingt man die Patienten, bei klinischen Versuchen mitzumachen. Meine Frau und ich empfinden dieses Vorgehen als Erpressung und unethisch.»
Haben Sie auch schon an einer medizinischen Studie mitgemacht? Schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen:
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