Ein Produkt, das in einem EU-Land hergestellt und zugelassen ist, darf automatisch in allen anderen Mitgliedstaaten verkauft werden. Nationale Zulassungsverfahren fallen weg, ebenso spezielle Deklarationsvorschriften. Im Juli 2010 hat die Schweiz diese «Cassis-de-Dijon-Prinzip» genannte EU-Regel übernommen.
Der Bundesrat sprach damals von einem schlagkräftigen Instrument im Kampf gegen die Hochpreisinsel Schweiz. Wenn die strengeren Importvorschriften wegfallen, sei es für internationale Unternehmen schwieriger, in der Schweiz für gleiche Ware höhere Preise durchzusetzen. Durch die erleichterte Gütereinfuhr würden die Konsumenten jährlich 2 Milliarden Franken sparen. Auch die Interessengemeinschaft Detailhandel Schweiz, der unter anderem Migros, Coop und Manor angehören, versprach, dass die Preise in den betroffenen Produktklassen um 10 bis 15 Prozent sinken würden (saldo 8/10).
Alle angrenzenden Länder massiv günstiger als die Schweiz
Das war zu viel versprochen: Bisher wurde «keine messbare Preiswirkung» festgestellt – weder im Non-Food-Bereich noch bei den Lebensmitteln. Das geht aus dem kürzlich veröffentlichten Bericht des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) hervor. Es verglich die Preise von 150 Produkten, darunter Elektroartikel, Waren aus dem Baumarkt, Nahrungsmittel und Bekleidung, Möbel und Gesundheit. Ausgewählt wurden Produkte, die in der jeweiligen Kategorie häufig verkauft werden. Für den Vergleich kauften die Seco-Mitarbeiter die entsprechenden Waren im Elsass, im süddeutschen Raum, im italienischen Domodossola und im österreichischen Dornbirn ein.
Resultat: Im Frühjahr 2010 kostete die eine Hälfte der erfassten Produkte in der Schweiz über 10 Prozent mehr als in den Nachbarländern (Mittelwert). Bei der anderen Hälfte betrug die Preisdifferenz weniger als 10 Prozent. Im ersten Quartal 2011 und 2012 – also nach Einführung der Importerleichterungen – wiederholte das Seco den Vergleich.
Wegen der Frankenstärke wurden die Preisdifferenzen sogar noch viel grösser. Je nach Nachbarland fielen sie aber sehr unterschiedlich aus: Am grössten war die Diskrepanz zwischen der Schweiz und Deutschland: 2010 waren die Preise in der Schweiz für die erhobenen Produkte 17,2 Prozent höher als beim nördlichen Nachbarn. 2011 schnellte dieser Wert auf 27,2 Prozent hoch und 2012 gar auf 27,9 Prozent. Bei Frankreich, Österreich und Italien lag der Mittelwert des Preisverhältnisses im Jahr 2012 zwischen 16,4 und 17,7 Prozent.
Was ist also unter dem Strich aus den 2 Milliarden Franken jährlichen Einsparungen geworden, die der Bundesrat den Konsumenten versprochen hatte? Peter Balastèr vom Seco sagt: «Man hätte bei den Prognosen vorsichtiger sein müssen.» Dennoch sei das Cassis-de-Dijon-Prinzip nicht wirkungslos. Es trage dazu bei, keine neuen Handelshindernisse aufzubauen. Zudem stärke die Möglichkeit von Parallelimporten die Verhandlungsposition von Händlern gegenüber Alleinimporteuren.
Parallelimporte scheinen Schweizer Detailhändler nicht zu stören
Ähnlich sieht das die IG Detailhandel. Verantwortlich dafür, dass die Preise hier nicht flächendeckend gesunken sind, sei vor allem das Vertriebssystem der internationalen Hersteller. Diese würden Schweizer Detailhändler weiterhin zwingen, bei ihren Schweizer Filialen teuer einzukaufen – oft zu höheren Einstandspreisen als die Konsumentenpreise im Ausland.
Anastasia Li, Direktorin des Markenartikelverbandes Promarca, widerspricht: Mehr als zwei Drittel der Verbandsmitglieder hätten europäische Einheitspreise festgelegt. Schweizer Detailhändler würden also nicht mehr bezahlen als ausländische Mitbewerber. Dass die hiesigen Ladenpreise für identische Produkte im Vergleich zum Ausland höher sind, führt sie auf Zusatzkosten des Schweizer Marktes sowie die höheren Margen der Schweizer Detailhändler zurück.
Sara Stalder von der Stiftung für Konsumentenschutz geht denn auch davon aus, dass der Handel in der Hochpreisinsel Schweiz «bisher gut gelebt hat». Sonst hätten sich die Grossverteiler längst vehement gegen die Importpreise zur Wehr gesetzt.
Die Schweizer Konsumenten müssen also trotz des Cassis-de-Dijon-Prinzips bis auf weiteres für ein- und dieselben Produkte viel mehr bezahlen als im benachbarten Ausland. Von den tieferen Importpreisen profitieren lediglich die Läden.
Schweiz-Zuschlag: Coop gegen Bussen für ausländische Absahner
Der Ständerat hat sich im März dafür ausgesprochen, dass Unternehmen wie Nivea Schweiz künftig gebüsst werden können, wenn sie die Läden in der Schweiz nicht zu den gleichen Preisen beliefern wie im Ausland. Die Vorlage kommt voraussichtlich noch dieses Jahr in den Nationalrat. Pikant: Im Unterschied zur Migros ist Coop gegen diese Revision des Kartellgesetzes. Das heutige Gesetz biete bereits genug Spielraum, um gegen Hersteller vorzugehen, die ungerechtfertigt in der Schweiz höhere Preise verlangten, behauptet Coop.