Letzten April war die Welt noch in Ordnung: «Den Krankenkassen geht es gut, und es gibt keinen Grund, ewig schwarzzumalen», verkündete Bundesrat Pascal Couchepin. Grund für seinen Optimismus: Die Krankenkassen wiesen Ende 2007 Reserven von 20,2 Prozent des Prämienvolumens aus. Von 2002 bis 2007 waren die Reserven Jahr für Jahr angewachsen – von 1,96 auf 3,97 Milliarden Franken (siehe Grafik). Couchepin wies die Kassen an, die unnötig hohen Reserven durch Dämpfung der Prämienanstiege abzubauen.
Gemäss den letzten Herbst publizierten Prognosen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) belaufen sich die Reserven Ende 2009 auf 16,3 Prozent. Das sind immer noch 4,8 Prozentpunkte mehr als die vom Departement des Innern festgelegte Minimalreserve von 11,5 Prozent. Also besteht eigentlich zurzeit kein Grund zur Besorgnis.
Das zeigt auch ein Blick über die Grenze: In Deutschland betragen die Reserven für die gesetzliche Krankenversicherung für 2009 gerade mal 5,3 Milliarden Franken – oder 2,1 Prozent. Allerdings: Das deutsche System lässt sich nicht direkt mit dem schweizerischen vergleichen. Deutschland hat im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung eine Einheitskasse. Ein ähnliches Modell ist vom Schweizer Stimmvolk im März 2007 abgelehnt worden.
Krankenkassenverband prognostiziert ein viel höheres Absinken der Reserven
Der Verband der Schweizer Krankenkassen Santésuisse malt den Teufel an die Wand und will die Bevölkerung schon jetzt auf einen happigen Prämienanstieg im Herbst einstimmen. Der Verband präsentiert ganz andere Zahlen als das Bundesamt: Schon im vergangenen Jahr seien die Reserven auf 12,1 Prozent geschrumpft, und bis Ende 2009 würden sie bei lediglich 4 Prozent liegen.
Santésuisse behauptet also, dass die Reserven innert nur zwei Jahren um 3,17 Milliarden Franken auf 797 Millionen Franken sinken würden. Wenn die Minimalreserve eingehalten werden soll, brauche es für das Jahr 2010 einen Prämienaufschlag «von gut 20 Prozent», prognostiziert der Verband.
Wie ist es überhaupt möglich, dass der Löwenanteil der Reserven in so kurzer Zeit abgebaut wird? Santésuisse-Sprecher Paul Rhyn verweist auf die massiv steigenden Kosten für medizinische Leistungen, die über den Erträgen der vom BAG bewilligten Prämien liegen sollen. Die Krankenversicherungen seien deshalb gezwungen, Reserven aufzulösen und Wertpapiere zu einem denkbar ungünstigen Moment zu verkaufen.
Wegen des Einbruchs an den Finanzmärkten rechnen die Kassen in den Jahren 2008 und 2009 mit einem Verlust von 800 Millionen Franken. Allerdings ist dabei nicht einmal klar, ob es sich um effektiv erlittene Verluste oder nur um Buchverluste handelt. Buchverluste entstehen, wenn Wertschriften am Stichdatum der Buchhaltung Ende Jahr aufgrund gesunkener Börsenwerte zu einem tieferen Wert eingesetzt werden. Ob allerdings tatsächlich ein Verlust entsteht, entscheidet sich erst im Zeitpunkt des Verkaufs der Papiere. Und da die Liquidität der Kassen dank der regelmässigen Prämienzahlungen gut ist, müssen die wenigsten Krankenkassen Wertschriften im dümmsten Moment verkaufen.
Bei den Zahlen und Argumenten von Santésuisse melden denn auch Insider grosse Zweifel an. Zu einem so frühen Zeitpunkt derart hohe Prämienaufschläge anzukündigen, wirke unseriös: «Eine politisch motivierte Kommunikationsstrategie», vermutet dahinter Semya Ayoubi, Gesundheitsökonomin der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren. «Die Kassen weisen die Schuld der Politik zu und lenken vom grossen Schaden ab, den sie allenfalls an der Börse eingefahren haben.»
Auch Nationalrätin Christine Goll (SP, ZH) mutmasst, dass die Kassen «Prämiengelder leichtsinnig verjubelt» haben. Belegen kann sie es aber nicht, da die Kassen mit Unterlagen knausern würden. Die Basler SP-Ständerätin Anita Fetz hegt sogar den Verdacht, dass die Krankenversicherer die zurzeit tief bewerteten Aktien intern umschichten: Die Verluste werden in der Grundversicherung realisiert, das künftige Erholungs- und Ertragspotenzial kommt den Zusatzversicherungen zugute.
Vollständiger Einblick in die Finanzen der Krankenkassen gefordert
Die Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr bringt die Forderungen ihrer Partei auf den Punkt: «Wenn die Krankenversicherungen höhere Prämien wegen zu schwacher Reserven fordern, müssen sie zuerst den vollständigen Einblick in die Finanzen zulassen und bestimmte Anlagerichtlinien respektieren.» Sie wird deshalb im Parlament einen Vorstoss einreichen, der bessere Anlagerichtlinien für die Krankenkassen fordert.
Tatsächlich sind die bisherigen Anlagevorschriften für die Krankenkassen relativ unbestimmt. In der Krankenversicherungsverordnung des Bundes wird zwar verlangt, dass die Kassen bei ihren Anlagen auf Sicherheit und «Erhaltung der erforderlichen Liquidität» bedacht sein müssen. Eine Obergrenze für Wertpapiere und andere börsenkotierte Anlagen fehlt jedoch. Es wird nur festgeschrieben, dass nicht mehr als 5 Prozent der Gesamtanlagen in ein einziges Unternehmen investiert werden dürfen.
Anlagerichtlinien: Bei Krankenversicherern strenger als bei Pensionskassen
Gemäss BAG waren Ende 2007 65 Prozent der Kapitalanlagen in Wertschriften, 25 Prozent bei Banken oder staatlichen Körperschaften und 8 Prozent in Immobilien investiert.
Santésuisse-Sprecher Felix Schneuwly verteidigt die Anlagepolitik: «Die Kassen haben sich nicht an der Börse verspekuliert.» Die Anlagerichtlinien seien schon jetzt strenger als diejenigen für die Pensionskassen. Ferner betont er, dass die Reserven der Grundversicherung weiterhin sauber von denen der Zusatzversicherungen getrennt bleiben.
Das BAG will die Berechnungen von Santésuisse nicht kommentieren, sondern erst die definitiven Zahlen für 2008 abwarten. Prognosen über die Höhe der Prämien im Jahr 2010 hält das BAG im jetzigen Zeitpunkt für verfrüht.
Mindestreserven: Versicherer müssen unvorhersehbare Risiken absichern
Zur Sicherstellung der längerfristigen Zahlungsfähigkeit müssen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung ausreichende finanzielle Reserven gebildet werden. Das schreibt das Krankenversicherungsgesetz den Versicherungen vor. Die Rückstellungen haben den Zweck, unvorhersehbare Risiken wie zum Beispiel den Konkurs einer Kasse oder eine Pandemie abzusichern.
Nimmt eine Kasse in einem Jahr mehr Prämiengelder ein, als sie aufwendet, wird dieser Überschuss der Reserve gutgeschrieben. Wie hoch diese Reserven sein müssen, legt das Innendepartement von Pascal Couchepin fest. Grundsätzlich braucht eine Versicherung, die mit den eingenommenen Prämien die laufenden Ausgaben bezahlt und keine langfristigen Verpflichtungen wie Renten kennt, keine hohen Reserven.
Die Krankenkassen dürfen in der Grundversicherung keine Gewinne auszahlen. Deshalb können die angesammelten Reserven in späteren Jahren für den Ausgleich von Verlusten eingesetzt werden und kommen somit den Prämienzahlern zugute. Wer die Krankenkasse wechselt, sollte also auch einen Blick auf die Reserven der Kasse werfen, weil diese mitentscheiden, wie sich die Prämien einer Kasse künftig entwickeln.
Die Höhe der Reserven ist immer wieder Gegenstand von politischen Diskussionen. Während die Kassen möglichst viele Reserven anhäufen möchten, haben die Versicherten wenig Interesse, mit zu hohen Prämien die Reserven der Kassen zu finanzieren. Weil sich die Berechnungs- und Schätzungsmethoden der Krankenversicherer in den letzten Jahren verbessert haben, hat der Bund die gesetzliche Reservequote gesenkt.
Statt wie früher über 16 Prozent gilt seit Anfang Jahr ein durchschnittlicher Reservesatz von 11,5 Prozent des jährlichen Prämienvolumens. Zu beachten ist, dass kleine Kassen bis 50 000 Versicherte immer noch Reserven von 20 Prozent benötigen, für die grossen Versicherungen gilt ein Satz von 10 Prozent.