Kristina Bauer (Name geändert) aus Goldach SG sitzt über ihren Akten: einem Stapel Arztberichte, verschiedenen Gutachten, einem abschlägigen Rentenbescheid. Die 53-Jährige bekommt keine Rente der Invalidenversicherung (IV), obwohl sie seit langem an starkem Schwindel leidet und dafür ihren Job als Maschinenführerin aufgeben musste.
Die IV nimmt an, Bauer könne «überwiegend sitzend» und «ohne Sturzgefahr» in einem 80-Prozent-Pensum 44'578 Franken pro Jahr verdienen. Damit erreicht ihre Invalidität 29 Prozent – für eine Rente wären 40 Prozent das Minimum. Der Invaliditätsgrad berechnet sich aus der Differenz zwischen Bauers Lohn vor der Erkrankung (62 400 Franken) und dem Lohn, den sie nach Ansicht der IV trotz Krankheit erreichen könnte (44'578 Franken).
Doch ein solches Einkommen ist aus Kristina Bauers Sicht unrealistisch. «An gewissen Tagen komme ich kaum aus dem Bett. Schon beim Aufstehen wird mir schlecht», beschreibt die Ostschweizerin ihre Situation seit zwei Jahren. «Ich weiss nicht, wie ich so fast 50'000 Franken verdienen soll», sagt sie. Das linke Innenohr, das Bauers Beschwerden verursacht, wird im Unispital Zürich behandelt. Dort wissen selbst Spezialisten nicht, ob sich das Gleichgewichtsorgan je wieder erholt.
Die IV müsste von einem erzielbaren Einkommen von nur 37'440 Franken ausgehen, damit Bauer Anspruch auf eine IV-Rente hätte. Dann bekäme sie 674 Franken im Monat – das sind 8088 Franken pro Jahr.
IV muss von tieferen Löhnen ausgehen
Die Ostschweizerin ist mit ihrem Problem nicht allein: Viele Betroffene erhalten keine oder eine zu tiefe Rente, weil die Invalidenversicherung mit zu hohen, in der Realität nicht erzielbaren Einkommen rechnet. Der Bundesrat hat die Invalidenversicherung deshalb verpflichtet, ab 1. Januar 2024 pauschal von 10 Prozent tieferen Löhnen bei Invalidität auszugehen.
Das hat nach Schätzungen des Bundesamts für Sozialversicherungen Auswirkungen auf rund 30'000 bestehende IV-Rentner, bei denen dadurch der Invaliditätsgrad und somit auch die Rente steigt. Der Bundesrat geht von 40 Millionen Franken pro Jahr aus, welche die IV für bestehende Rentner zusätzlich auszahlen wird. Hinzu kommen rund 42 Millionen für neue IV-Rentner. Damit kommen Tausende neu zu einer Rente, oder ihre jetzige Rente wird erhöht.
Das können Betroffene jetzt tun
- Wer eine IV-Rente bezieht und abklären will, ob ihm mehr Geld zusteht, kann an die kantonale IV-Stelle oder Ausgleichskasse gelangen. Dazu muss man eine Neuberechnung der Rente verlangen. Die IV-Stelle muss sich innert dreier Jahre, spätestens bis Ende 2026, bei Bezügern melden, die Anspruch auf eine höhere Rente haben.
- Wer 2024 erstmals eine Rente beantragt, fällt automatisch unter die neue Regelung. Beispiel: Bei einer Verkäuferin, die gesund ein Einkommen von 59 000 Franken erzielen könnte und krank nur noch 33'701 Franken verdient, gilt neu ein Invaliditätsgrad von 43 Prozent. Sie hat damit Anspruch auf eine Teilrente von 797 Franken pro Monat, also 9564 Franken pro Jahr.
- Wer bislang einen negativen Rentenbescheid erhalten hat, sollte im nächsten Jahr bei der zuständigen IV-Stelle oder Ausgleichskasse abklären, ob die neue Regelung etwas am Entscheid ändert.
Wie viele Betroffene neu einen Rentenanspruch begründen, erfasst das Bundesamt für Sozialversicherungen nicht. Sicher ist: Auch mit der neuen Regelung fallen weiterhin Betroffene durchs Raster.
Das gilt auch für Kristina Bauer: Selbst mit einem neu um 10 Prozent geringeren Lohn in der IV-Berechnung liegt ihr Invaliditätsgrad nur bei 36 Prozent und damit unter der Mindestgrenze für eine Teilrente. Trotzdem rät Karl Kümin, Leiter Recht beim K-Tipp: «Die IV muss den Rentenanspruch im Einzelfall kostenlos prüfen. Falls sich der Gesundheitszustand seit der letzten Untersuchung verschlechtert hat, ist der Anspruch neu abzuklären.»
Einen Musterbrief für die Beantragung einer Neuberechnung der IV-Rente finden Sie hier.
IV: So wird der Rentenanspruch berechnet
Für eine Invalidenrente muss man sich bei der kantonalen Ausgleichskasse oder der IV-Stelle anmelden. Wer Krankentaggeld bezieht, sollte sich spätestens sechs Monate nach Beginn der Krankheit anmelden – denn eine IV-Rente wird frühestens ein halbes Jahr nach Eingang der Anmeldung ausgezahlt.
Danach prüft die IV-Stelle den gesundheitlichen Zustand und ermittelt den IV-Grad, indem sie das Einkommen vor Eintritt der Invalidität jenem nach Eintritt der Invalidität gegenüberstellt. Liegt die Differenz mindestens bei 40 Prozent, haben Betroffene Anspruch auf eine Rente.
Weitere Infos und Formulare zur IV liefert der Ratgeber Gut vorsorgen: Pensionskasse, AHV und 3. Säule. Zu bestellen im Internet unter Ktipp.ch.