«Der Streit mit der Kasse raubte mir die letzte Kraft»
Ihr Gesicht ist durch die Krankheit entstellt. Jeder Muskel schmerzt. Doch keine Kasse wollte der Patientin das rettende Mittel zahlen. Dank dem Gesundheitstipp bekommt sie jetzt ihre Therapie.
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Gesundheitstipp 10/2005
28.09.2005
Sonja Marti
Vor einem weiteren Krankheitsschub habe ich panische Angst», sagt Elisabeth Oehler. Die 48-Jährige leidet seit über zehn Jahren an der seltenen Autoimmunkrankheit Lupus erythematodes. Oehlers Abwehrzellen haben sich gegen ihren eigenen Körper gerichtet. Jeder Muskel schmerzt, das Gesicht ist durch Hautausschläge und Narben entstellt. Selbst Haare und Augenbrauen waren zeitweise ausgefallen. Schorf bedeckte ihre Kopfhaut.
«Die Krankheit hat mir alle Energie geraubt», sagt Oehler. «...
Vor einem weiteren Krankheitsschub habe ich panische Angst», sagt Elisabeth Oehler. Die 48-Jährige leidet seit über zehn Jahren an der seltenen Autoimmunkrankheit Lupus erythematodes. Oehlers Abwehrzellen haben sich gegen ihren eigenen Körper gerichtet. Jeder Muskel schmerzt, das Gesicht ist durch Hautausschläge und Narben entstellt. Selbst Haare und Augenbrauen waren zeitweise ausgefallen. Schorf bedeckte ihre Kopfhaut.
«Die Krankheit hat mir alle Energie geraubt», sagt Oehler. «Meine Lebensqualität ist gleich null.» Seit einigen Jahren ist die Patientin zu 50 Prozent invalid. Und die entzündliche Krankheit kann weiter fortschreiten und innere Organe befallen - zum Beispiel das Herz oder die Niere.
Die übliche Therapie mit Kortison, Schmerzmitteln, Malaria-Medikamenten und Antidepressiva schlug nicht an und verursachte schlimme Nebenwirkungen. In seltenen Fällen kann dies vorkommen. Oehler war am Ende: «So konnte und wollte ich nicht mehr leben», sagt sie.
«Nach drei Tagen begann der Schorf bereits abzufallen»
Ihre ganze Hoffnung setzt Elisabeth Oehler seither in das Medikament Thalidomid. In der Schweiz ist es allerdings nicht zugelassen. Der erste Therapieversuch verlief aber sehr erfolgreich. Oehler: «Nach drei Tagen begann der Schorf in meinem Gesicht und auf dem Kopf bereits abzufallen.» Und sie hatte keine neuen Krankheitsschübe.
Ihr Arzt Milek Kowalski war anfangs sehr skeptisch. Mittlerweile ist er von der Therapie überzeugt: «Die Patientin spricht nur auf dieses Medikament an und hat es auch gut vertragen.»
Doch dann drohte das Aus für die hilfreiche Therapie. Weder die Krankenkasse Intras noch Visana wollten das Medikament bezahlen. Kostenpunkt: rund 900 Franken pro Monat. Bei der Intras hat Elisabeth Oehler ihre Grundversicherung. Bei der Visana eine Zusatzversicherung für nicht kassenpflichtige Medikamente.
Bloss ist bei Thalidomid die Sache nicht so einfach. Unter dem Namen Contergan führte das Medikament Ende der 50er-Jahre zu schweren Missbildungen bei Kindern, deren Mütter das Mittel während der Schwangerschaft geschluckt hatten. Deshalb ist es in der Schweiz nicht mehr zugelassen.
«Die Kassen schieben sich den schwarzen Peter zu»
Arzt Milek Kowalski holte deshalb eine Sonderbewilligung bei der Schweizer Arzneimittelbehörde Swissmedic ein. «Das war kein Problem», sagt der Arzt aus Solothurn. Für Swissmedic sei schnell klar gewesen, dass Thalidomid für die Patientin eine wichtige Therapiemöglichkeit sei.
Dies bestätigt Paul Dietschy von der Geschäftsleitung der Swissmedic. Die Behörde empfehle in solchen Fällen, dass die Grundversicherung die Kosten übernehme. «Aus ethischen Gründen», erklärt Dietschy. Eine Zahlungspflicht gebe es allerdings nicht.
Darauf berief sich Oehlers Grundversicherung - die Intras. Sie sei nicht verpflichtet, Thalidomid zu bezahlen, schrieb sie der Patientin. Bei einer solchen Sonderbewilligung für ein Medikament sei die Zusatzversicherung Visana zuständig. Doch auch die Visana will nicht zahlen. Bei einem Medikament, das für eine Patientin bei einer seltenen Krankheit «zwingend medizinisch angezeigt» sei, müsse die Grundversicherung zahlen.
Arzt Kowalski hält den Streit der beiden Krankenkassen für «kleinlich». Er ist überzeugt: «Hätte Frau Oehler keine Zusatzversicherung oder beide Versicherungen bei derselben Kasse, wäre es kein Problem.» Doch weil zwei Krankenkassen beteiligt seien, würden diese sich ständig den schwarzen Peter zuschieben. «Die Leidtragende ist die Patientin.»
Selbst Fachleute sind sich nicht einig, wer das Medikament bezahlen muss. Daniel Dauwalder vom Bundesamt für Gesundheit: «Die Grundversicherung zahlt ein nicht zugelassenes Medikament nur dann, wenn es gegen eine seltene und gefährliche Krankheit eingesetzt wird.» Zudem müsse es weitere Bedingungen erfüllen, die Therapie zum Beispiel müsse medizinisch unbestritten sein.
Laut Dauwalder prüfe der Vertrauensarzt der Krankenkasse, ob diese Voraussetzungen erfüllt seien - unter anderem anhand der EU-Liste der Arzneimittel gegen seltene Krankheiten, der so genannten «orphan drugs». Als Therapie für an Lupus erythematodes Erkrankte steht Thalidomid nicht auf dieser Medikamentenliste.
Entscheid liegt beim Vertrauensarzt der Kasse
Auch Peter Marbet vom Krankenkassenverband Santésuisse weiss keine klare Antwort: «Man kann nicht generell sagen, wer Thalidomid zahlen muss.» Der Vertrauensarzt der Kasse müsse die Krankengeschichte des Patienten prüfen. «Er entscheidet dann, ob die Grundversicherung das Medikament zahlt.»
Jetzt hat auch die Ombudsstelle für Krankenversicherungen den Fall von Elisabeth Oehler geprüft. Sie empfiehlt, dass die Grundversicherung für die Kosten aufkommen solle.
Als der Gesundheitstipp bei den beiden Krankenkassen nachfragt, kommt plötzlich Bewegung in den Fall: Die Intras meldet sich innert weniger Stunden und erklärt, dass sie die Kosten übernehmen werde - «auch wenn wir dazu nicht verpflichtet sind», wie sie betont. Auf diesen Entscheid wartete Elisabeth Oehler fast ein Jahr - ein Jahr, das ihr «beinahe die letzte Kraft geraubt» hätte, wie die Patientin sagt.
Für die Visana ist der Fall damit auch erledigt. Die Schuld für die Zeitverzögerung schiebt sie dem Vertrauensarzt der Intras zu. Er habe sich nicht beim Visana-Vertrauensarzt gemeldet. «Somit ist die Versicherte tatsächlich die Leidtragende, wofür wir um Entschuldigung bitten», erklärt die Visana. Doch sie hätte ein solches Medikament mit Sonderbewilligung sowieso nicht bezahlt, behauptet die Kasse.
Welche Versicherung bezahlt Ihr Medikament?
Die Grundversicherung zahlt
- Medikamente, die zugelassen sind und vom Bund als kassenpflichtig erklärt wurden.
Sie stehen auf der Spezialitätenliste. Details finden Sie im Internet unter www.bsv.admin.ch/sl /liste/d/index. htm.
- Medikamente, die nicht zugelassen sind, aber auf der EU-Liste der Arzneimittel gegen seltene Krankheiten stehen (orphan drugs), siehe www.pharmacos.eudra.org/F2/ register/alforphreg.htm.
- Medikamente, die für eine andere Krankheit zugelassen sind, aber einem Patienten mit einer seltenen Krankheit trotzdem helfen können (orphan indication).
Die Zusatzversicherung zahlt
- Kosten für viele andere Medikamente, die nicht auf der Spezialitätenliste sind.
Achtung
Die verschiedenen Kassen bieten nicht alle dieselben Leistungen. Einige zahlen nur einen bestimmten Prozentsatz der Kosten oder nur bis zu einem bestimmten Höchstbetrag.
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«Der Streit zwischen den Kassen ist kleinlich. Die Leidtragende ist die Patientin»
Arzt Milek Kowalski