Bestellmanie - Karen Naundorf, Journalistin in Buenos Aires, Argentinien
Inhalt
K-Geld 5/2006
25.10.2006
Mein Freund Tincho will Deutsch lernen und ich soll es ihm beibringen. «Ich bin keine Lehrerin», sage ich. «Macht nichts. Sag mir einfach, wie ich erz?hle, was ich heute den Tag ?ber gemacht habe», sagt Tincho.
Ich ?berlege und komme zu dem Entschluss: Das erste Verb, das ich Tincho beibringen muss, ist «bestellen», das zweite «liefern». Wie soll er sonst erz?hlen, was er gemacht hat?
Schliesslich klingt ein typischer B?rotag in Argentinien so: «Mittags hab...
Mein Freund Tincho will Deutsch lernen und ich soll es ihm beibringen. «Ich bin keine Lehrerin», sage ich. «Macht nichts. Sag mir einfach, wie ich erz?hle, was ich heute den Tag ?ber gemacht habe», sagt Tincho.
Ich ?berlege und komme zu dem Entschluss: Das erste Verb, das ich Tincho beibringen muss, ist «bestellen», das zweite «liefern». Wie soll er sonst erz?hlen, was er gemacht hat?
Schliesslich klingt ein typischer B?rotag in Argentinien so: «Mittags haben wir Ravioli bestellt, danach einen Kaffee. Dann haben wir den Friseur kommen lassen und sp?ter kam die Schokotorte f?r Mariana zum Geburtstag. Dann brauchten wir Toner f?r den Drucker und CD-Rohlinge, die haben f?r die Lieferung ?ber eine halbe Stunde gebraucht. Unversch?mt.»
Argentinier bestellen alles nach Hause oder ins B?ro. Niemand geht auf die Strasse, wenn es nicht unbedingt sein muss. Und die Eink?ufe im Supermarkt l?sst man sich sowieso nach Hause liefern. Denn das Sch?ne ist: Bringen lassen kostet nichts. Delivery sin cargo.
Das k?nnen sich die L?den leisten, weil die Stundenl?hne niedrig sind: 3.50 bis 4.50 Pesos bekommt ein Austr?ger, das sind umgerechnet Fr. 1.50 bis 1.80, eine Pizza kostet um die 18 Pesos, Fr. 7.30, je nach Belag.
Jeden Morgen ?nde ich mehr Werbezettel f?r Delivery-Services als Post im Briefkasten. Die Tintoreria Hiroshima will meine W?sche holen und sauber zur?ckbringen, ohne Aufpreis versteht sich. «Todo pollo» will mich mit H?hnchen f?r die n?chsten drei Monate beliefern. Unter der Nummer 4585-1701 gibt es Erwachsenenwindeln.
Und ein gewisser Onkel R?ul hat gerade Preiselbeeren geerntet und in der ganzen Strasse Zettel verteilt, dass er sie gerne vorbeibringt, Anruf gen?gt. Sogar McDonald’s hat in Buenos Aires einen Lieferservice und einige Anw?lte bieten «Scheidungen per delivery» an. Die Beratung ?ndet im Internet statt, die n?tigen Papiere werden per Kurier zugestellt - ohne Aufpreis, versteht sich.
«Wir haben immer schon viel bestellt, aber in den letzten Jahren ist das noch extremer geworden», sagt Tincho, der in der K?che die Werbezettel der Lieferservices sammelt und akkurat in einen Ordner heftet. «Die Stadt ist seit der Wirtschaftskrise gef?hrlicher geworden, stressiger. Die Leute bleiben gerne einfach mal zuhause», sagt er.
Wie viele Delivery-Services es gibt, wurde mir erst klar, als ich auf der Website superdelivery.com.ar nachsah. Man gibt seine Adresse ein, und die Datenbank listet - je nach Lieferzone - alles auf, was man sich nach Hause bestellen kann. Ich wohne am Stadtrand und selbst hier habe ich noch 208 M?glichkeiten, mir etwas bringen zu lassen: B?cher, Sushi, Leihhandys, Zigarren, B?robedarf, erotische Geb?ckteilchen, Medikamente, Katzenfutter.
Ich wohne sogar im Einzugsbereich eines Fitnesstrainers, der auf Wunsch nach Hause kommt. Und auf der Website von Ed Sullivan und seinen kambodschanischen Sklaven kann man gebrannte DVDs f?r umgerechnet Fr. 2.80 pro St?ck bestellen.
Ed Sullivan und seine Delivery-Kollegen sind schuld, dass ich heute etwas sehr Ungew?hnliches tue. Ich habe noch nie ?ber mein Gewicht geschrieben. Das gehe niemanden etwas an, dachte ich immer. Aber f?r diesen Text ist es von Bedeutung. Ich habe im letzten Jahr vier Kilo zugenommen. Schuld daran ist der Delivery-Wahn. Vier Kilo extra. Ohne Aufpreis. Bestellt und geliefert. Ab morgen fahre ich wieder mit dem Rad zum Einkaufen. Das kostet auch nichts extra.