Um halb elf ist Schluss - Gastro-Kritik von Andrin C. Willi
Inhalt
saldo 16/2005
12.10.2005
«Frühstück bis halb elf!», das ist die dritte Standardformulierung jedes schlechten Hotelportiers - nach «Herzlich willkommen» und «Hatten sie eine angenehme Anreise?». Was erwartet wohl den Gast bis um halb elf im Speisesaal? Es muss etwas Grossartiges sein. Schliesslich wird es bereits bei der Ankunft angepriesen. Frühstück, das ist das kulturübergreifende anthropologische Phänomen der ersten Mahlzeit. Das ideale Mittel, um die positive Energie des Morgens in den Tag hinüberzurett...
«Frühstück bis halb elf!», das ist die dritte Standardformulierung jedes schlechten Hotelportiers - nach «Herzlich willkommen» und «Hatten sie eine angenehme Anreise?». Was erwartet wohl den Gast bis um halb elf im Speisesaal? Es muss etwas Grossartiges sein. Schliesslich wird es bereits bei der Ankunft angepriesen. Frühstück, das ist das kulturübergreifende anthropologische Phänomen der ersten Mahlzeit. Das ideale Mittel, um die positive Energie des Morgens in den Tag hinüberzuretten. Das Frühstück ist das Beste, was einem in einem Hotel passieren kann. Theoretisch. Man braucht nichts weiter zu tun, als vor halb elf im Frühstücksraum aufzukreuzen.
Dort baut ein Koch gerade die Warmhalteplatten ab. Es riecht nach Brennpaste. Wässerigen Kaffee bekommt man mit heisser Milch halbliterweise in angedellten Krügen. Der Zucker steht im Spender auf dem Tisch. Das Besteck ist in Feldschlösschen-Papierservietten eingewickelt. Die Tischsets - ebenfalls aus Papier - offerierte der regionale Kleingewerbeverband.
Der Blick aufs Buffet lässt noch einiges mehr an positiver Energie verpuffen. Es gibt immer und überall die gleichen drei Industriemarmeladen. Sie werden in der Kaffeeküche aus blauen 5-Kilogramm-Plastikkübeln in schöne weisse Porzellantöpfchen mit Deckel umgeleert - und immer wieder aufgefüllt. Quittengelée wird portionenweise abgegeben, kommt aber vom selben Hersteller.
In Salatblätterschüsseln aus Glas schwimmen geschmolzene Eiswürfel und in Plastik portionierte Butter, Nutella und Honig. Plastikkäse und Plastikzwieback lagern nebenan. Der kleine beige Plastikabfalleimer auf dem Tisch ist im Nu randvoll. Das Einzige, was hier noch länger haltbar ist als der eingeschweisste Zwieback, sind die Plastikblumen. Ein tolles Bild.
Die 3-Minuten-Eier sind ausgegangen. Die Gläser für den Jus d'orange, der gerade vom Tetrapak in den Glaskrug umgefüllt wurde, fehlen. Der gebratene Speck und die Würstchen sind kalt. Sie liegen da wie Hauptdarsteller in einem Sezierkurs für Medizinstudenten. Auch die Temperatur im Frühstücksraum erinnert an einen Sektionssaal. Der Fruchtsalat, die Birnenhälften, die schrumpeligen Pflaumen, sie alle kommen aus der tiefen Dunkelheit der Dose. Morgenstund hat hier Weissblech im Mund.
Nach neun Uhr wird der Aufschnitt nicht mehr ersetzt. Wer nicht zur rechten Zeit im Speisesaal auftaucht, kann sich Parmaschinken, knusprige Vollkornbrötchen und Spiegeleier abschminken. Stattdessen hats noch angetrocknete Trutenfleischkäsewurst und Pumpernickel. Der Hotelier als Vormund: Will der Gast was, soll er gefälligst früh aufstehen.