Sekundäre Pflanzenstoffe - Vitamine erhalten gesunde Konkurrenz
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Gesundheitstipp 10/2000
01.10.2000
Früchte und Gemüse enthalten viel mehr wichtige Substanzen als Vitamine und Mineral stoffe - die Forschung steht erst am Anfana
Trotz Vitamin-Pillen und Functional Food - auf Obst und Gemüse kann man nicht verzichten. Denn sie enthalten unzählige wichtige Stoffe, die durch nichts zu ersetzen sind. Viele davon sind noch gar nicht richtig erforscht. Zum Zmorge eine Multi-Vitamin-und-Mineralstoff-Tablette, Cornflakes mit 13 Vitaminen und kalziumangereicherter Milch. Zum Zmittag r...
Früchte und Gemüse enthalten viel mehr wichtige Substanzen als Vitamine und Mineral stoffe - die Forschung steht erst am Anfana
Trotz Vitamin-Pillen und Functional Food - auf Obst und Gemüse kann man nicht verzichten. Denn sie enthalten unzählige wichtige Stoffe, die durch nichts zu ersetzen sind. Viele davon sind noch gar nicht richtig erforscht. Zum Zmorge eine Multi-Vitamin-und-Mineralstoff-Tablette, Cornflakes mit 13 Vitaminen und kalziumangereicherter Milch. Zum Zmittag rasch ein Salami-Sandwich und einen vitaminisierten Milchdrink mit probiotischen Bakterien und probiotischen Ballaststoffen. Zum Zvieri einen Getreideriegel mit Folsäure und Vitaminen, und am Abend schliesslich ein währschaftes Cordon bleu mit Pommes.
Wer sich so ernährt, hat wahrscheinlich nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Vitamine waren schliesslich genug drin, auch ohne Pfirsich oder Salat. Allein die Tablette enthält eine Tagesdosis. Und die immer aufdringlichere Werbung für Vitaminpräparate legt zumindest nahe: Vitamine gut - alles gut.
Doch der Schein trügt. Wissenschaftler entdecken nämlich in Obst, Gemüse, Getreide und Nüssen immer mehr Substanzen, die vermutlich ebenso wichtig für die Gesundheit sind wie Vitamine. Die Forscher nennen sie «sekundäre Pflanzenstoffe», weil diese nicht im primären Stoffwechsel der Pflanze entstehen.
Erst ein Bruchteil der Substanzen ist erforscht
Diese Substanzen färben zum Beispiel Karotten orange, Tomaten rot, Kirschen dunkelrot und Spinat grün. Sie treiben einem beim Zwiebelschneiden die Tränen in die Augen, machen Senf und Meerrettich scharf, Chicorée bitter oder geben dem Kohl den charakteristischen Geruch. Über 100 000 verschiedene derartige Substanzen gibt es, so schätzen die Forscher. Erst über einen winzigen Teil wissen sie wenigstens ein bisschen Bescheid.
«Wir kennen etwa 50 bis 100 dieser Stoffe etwas besser», sagt Bernhard Watzl, Wissenschaftler an der deutschen Bundesforschungsanstalt für Ernährung in Karlsruhe. Betakarotin ist am bekanntesten. Watzl beschäftigt sich seit Jahren mit den sekundären Pflanzenstoffen. In dieser Zeit wurde ihm klar: «Sich auf Vitamine zu konzentrieren ist viel zu eng.» Für die Gesundheit seien die anderen Substanzen in ihrer Vielfalt und Fülle mindestens so wichtig.
Bei manchen dieser Stoffe spricht vieles dafür, dass sie Krebs und anderen Krankheiten vorbeugen können. Zumindest haben sie in Zellkulturen bewiesen, dass sie die Wirkung schädlicher Substanzen abschwächen können - also antioxidativ wirken. Bekannt ist etwa, dass Flavonoide im Rotwein das Risiko für Herzinfarkt senken.
Die Lebensmittelindustrie reagiert auf solche Erkenntnisse prompt: Sie reichert bereits Joghurts, Riegel, Müesli, Suppen oder andere Fertigprodukte mit isoliertem Betakarotin, Phytosterinen oder Lignanen an. «Functional Food» heissen diese Produkte dann - Lebensmittel, die eine spezielle Funktion für den Körper haben sollen. Auch Pillen gibt es bereits, die manche dieser Substanzen oder Gemüse-Extrakte enthalten.
Doch Bernhard Watzl hält dies nicht für «empfehlenswert». «Ein Grossteil der angereicherten Produkte ist wenig sinnvoll», sagt der Ernährungswissenschaftler. «Wir wissen noch viel zu wenig über die einzelnen Substanzen, geschweige denn über das Zusammenspiel.» So ist es mehr oder weniger willkürlich, welche Substanzen die Industrie den Produkten beifügt. «Es gibt allein 5000 Flavonoide», sagt Watzl. «Man kann die Natur in diesem Bereich nicht nachahmen.»
Eine ungesunde Ernährung lasse sich durch solche Produkte nicht verbessern. Genau deshalb könne es auch gefährlich sein, sich dank «Functional Food» oder Vitaminpillen gut versorgt zu glauben. Die einseitigen Kampagnen haben dazu geführt, dass eine Vitamin-Pille mittlerweile als gesünder gilt als ein Apfel. Gesundheitsbewusste Menschen schlucken oft brav jeden Tag ihre Tablette - in der Meinung, etwas für die Gesundheit zu tun. Das Bewusstsein, mit dem lustvollen Beissen in eine reife Frucht oder mit einem knackigen Salat mindestens so Wichtiges für den Körper zu tun, schwindet.
Auf den richtigen Mix kommt es an
Doch es zeigt sich immer wieder, dass es der natürliche Mix der vielen Substanzen - sekundäre Pflanzenstoffe, Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente - in Früchten, Gemüse und Getreide ist, der gesund hält. Und nicht einzelne Substanzen in hoher Menge. Eva Leschik von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung warnt: «Einzelsubstanzen bewirken oft nicht dasselbe, wie wenn man die gleiche Menge aus Obst und Gemüse konsumiert.»
- Marian V. Eberhardt und ihre Kollegen von der Cornell-Universität in Ithaca, USA, stellten kürzlich fest: Schon ein halber Apfel (100 Gramm) mit Schale hemmt das Krebswachstum in Zellkulturen gleich stark wie 1,5 Gramm reines Vitamin C, dem diese Wirkung schon lange zugeschrieben wird. Pro Tag brauchen wir aber sogar nur 0,075 Gramm Vitamin C. Es mussten also andere, vermutlich auch noch unbekannte Substanzen im Apfel den schützenden Effekt ausüben.
- Eine Auswertung von über 250 Untersuchungen zeigt: Wer viel Obst und Gemüse isst, kann das Risiko für manche Magen- und Darmkrebs-Arten, aber auch für Brust- und Prostatakrebs um etwa die Hälfte senken.
- Dagegen kam kürzlich das Expertengremium der US-Akademie der Wissenschaften nach ausführlichen Studien zum Schluss: Grosse Mengen von isoliertem Vitamin C und E, Selen oder Betakarotin vermögen weder das Risiko von Krebs, Herzkrankheiten, Diabetes, Alzheimer noch anderen Krankheiten zu senken. Die Behörde setzte sogar erstmals Höchstmengen für diese Einzelsubstanzen fest.
- Zwei grosse Studien mit je 9000 und 11 000 Teilnehmern zeigten: Vitamin E aus Kapseln senkt die Rate von Herzkrankheiten im Vergleich zu Scheinmedikamenten nicht. Natürliches Fischöl (das nebst anderen Substanzen viel Vitamin E enthält) hatte jedoch einen messbaren Effekt.
- Eine grosse Studie mit 22 000 Ärzten in den USA, die 12 Jahre lang unwissentlich entweder Betakarotin oder Placebos schluckten, ergab überhaupt keinen Unterschied bezüglich Krebs- oder Herzkrankheiten.
Mit Vitaminen lässt sich viel Geld verdienen
Dass Vitamine und Mineralstoffe einen so hohen Stellenwert haben, hat auch damit zu tun, dass man sie schon so lange kennt. Ein Mangel macht sich zudem schneller bemerkbar, als dies bei sekundären Pflanzenstoffen der Fall ist. Schliesslich sind Vitamine künstlich herstellbar und für die Produzenten ein grosses Geschäft: Allein der Schweizer Anbieter Roche macht damit jährlich fast 2,5 Milliarden Franken Umsatz.
Doch viele ältere Studien, die praktisch nur Vitamine als wichtig darstellen, haben zwei grosse Fehler:
- Forscher untersuchten die Ernährung verschiedener Bevölkerungsgruppen und stellten fest, dass jene mit hohem Gemüse- und Obstkonsum gesünder waren. Sie führten dies auf den errechneten höheren Vitamingehalt zurück. Andere Stoffe zogen sie gar nicht in Betracht.
- Andere Studien verglichen, ob jene, die Vitaminpräparate nehmen, gesünder sind als jene, die keine nehmen. «Doch die Leute, die von sich aus solche Produkte nehmen, leben meist ohnehin gesünder», sagt die Ärztin Monika Eichholzer vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Uni Zürich. Das heisst, sie sind sozial besser gestellt, interessieren sich für ihren Körper, treiben Sport, ernähren sich insgesamt gesünder - und haben allein dadurch weniger Gesundheitsrisiken.
Jedenfalls gibt es noch keine Studie, die viele Leute zufällig verteilt über einen langen Zeitraum Vitaminpräparate, Functional Food oder Placebos schlucken liess und die auftretenden Krankheiten verglichen hat. Die erste derartige Studie mit 15 000 amerikanischen Ärzten hat eben erst begonnen. Resultate sind erst in etwa 15 Jahren zu erwarten.
Abwechslung auf dem Teller bringt am meisten
Bis dahin ist es wohl gesünder, die einseitige Pillen-Schluckerei zu Gunsten von Apfel, Salat oder Gemüseauflauf aufzugeben. Da es so viele verschiedene Stoffe gibt und da noch so wenig über das Wechselspiel dieser Substanzen bekannt ist, macht es auch wenig Sinn, einzelne Früchte oder Gemüse übermässig zu essen. Im Gegenteil: Eine Studie aus Italien zeigte, dass nicht nur die gesamte Menge an Grünzeug, sondern zusätzlich auch die Abwechslung das Krebsrisiko senken konnte.
Bernhard Watzl hat die Erkenntnisse seiner Arbeit umgesetzt: Vitaminpillen oder angereicherte Joghurts kauft er nicht. Dafür nimmt er täglich Obst mit zur Arbeit. «Die Natur bietet uns so gute Produkte - die wird man nie simulieren können.»
Anita Baumgartner
Früchte und Gemüse im Oktober
Diese Gemüse und Früchte sind bei uns jetzt erntereif und in den Läden erhältlich.
Gemüse
- Artischocken
- Blumenkohl
- Bohnen
- Endivien
- Fenchel
- Gurken
- Karotten
- Knollensellerie
- Kohlrabi
- Kopfsalat
- Krautstiel
- Kresse
- Lattich
- Lauch
- Nüsslisalat
- Radiesli
- Randen
- Rettich
- Rosenkohl
- Rotkraut
- Schwarzwurzeln
- Spinat
- Tomaten
- Weisskabis
- Wirz
- Zucchetti
- Zwiebeln
Früchte
- Äpfel
- Birnen
- Quitten
- Trauben
- Zwetschgen