«Wall Street Journal»: Unfreiwillige Lektüre für Schweizer Zeitungsleser
Das konservative US-amerikanische Wirtschaftsblatt «Wall Street Journal» hat zwar kaum Leser in der Schweiz. Aber eine grosse Resonanz, weil Journalisten dem Blatt gerne abschreiben.
Inhalt
saldo 14/2011
10.09.2011
Letzte Aktualisierung:
13.09.2011
Rolf Hürzeler
Typisch die Meldung im «Tages-Anzeiger»: «Credit Suisse streicht Stellen im Investment-Banking», schreibt das Blatt diesen Sommer. Und gibt als Quelle das Wirtschaftsblatt «Wall Street Journal» an, das in New York erscheint. Da fragt sich der Leser, weshalb die Journalisten in Zürich auf Meldungen aus New York angewiesen sind, wo doch der CS-Hauptsitz einen Steinwurf von der Redaktion des Tagi entfernt liegt.
Das Beispiel zeigt: Man b...
Typisch die Meldung im «Tages-Anzeiger»: «Credit Suisse streicht Stellen im Investment-Banking», schreibt das Blatt diesen Sommer. Und gibt als Quelle das Wirtschaftsblatt «Wall Street Journal» an, das in New York erscheint. Da fragt sich der Leser, weshalb die Journalisten in Zürich auf Meldungen aus New York angewiesen sind, wo doch der CS-Hauptsitz einen Steinwurf von der Redaktion des Tagi entfernt liegt.
Das Beispiel zeigt: Man braucht das «Wall Street Journal» nicht zu lesen, um durch dessen Inhalte beeinflusst zu werden. Gelesen wird das US-Blatt denn auch nur von wenigen Schweizern. Aber auf den Wirtschaftsseiten der Schweizer Zeitungen erhalten sie immer wieder unüberprüfte Informationen und Meinungen des «Wall Street Journals» vorgesetzt. Offenbar ist die Glaubwürdigkeit des Blatts bei vielen Journalisten immens.
«NZZ Online» etwa verbreitete eine Meldung der Nachrichtenagentur Reuters unter dem Titel «Spanien plant weitere Milliarden-Spritzen für die Sparkassen». Wiederum wird als Quelle das «Journal» angegeben, das sich laut NZZ auf Kreise beruft, «die mit der Sache vertraut sind».
Die Quellenlage beim «Wall Street Journal» ist oft undurchsichtig
Ganz ähnlich die undurchsichtige Quellenlage beim «Newsnetz», der Internetausgabe von «Tages-Anzeiger», «Basler Zeitung» etc.: Der Verwaltungsrat des Allschwiler Biotech-Unternehmens Actelion habe einen Ausschuss gebildet, der einen möglichen Verkauf des Unternehmens prüfe. Quelle: Wiederum das «Wall Street Journal», das sich auf Personen beruft, «die mit der Sache vertraut seien».
Mit anderen Worten: Die Hintergründe einer Meldung des US-Blattes können noch so diffus sein – die Meldung wird trotzdem in der Schweiz verbreitet.
Das ist erstaunlich: Denn das «Wall Street Journal» wird von der Mediengruppe News Corp. des rechtslastigen Unternehmers Rupert Murdoch herausgegeben. Trotzdem stellt kaum ein Wirtschaftsjournalist eine Nachricht des Blatts in Frage. Immerhin erlitt das Murdoch-Imperium im Sommer einen schweren Imageschaden, weil ihr britisches Sonntagsblatt «News of the World» mit seinen Recherchiermethoden systematisch Recht verletzt hatte. Das «Wall Street Journal» liess sich in dieser Affäre zwar direkt nichts zuschulden kommen. Aber das Blatt erwies sich als treue Stimme seines Herrn, beschönigte die Geschäftspolitik von News Corp. («Medienhäuser bezahlen üblicherweise für Informationen») und jammerte über die «Schadenfreude» der Murdoch-Kritiker.
Zeitungen übernehmen auch rechtslastige WSJ-Kommentare
Das Blatt steht politisch den Republikanern nahe und kritisiert den US-Präsidenten Barak Obama regelmässig. Selbst solche Breitseiten gegen den politischen Gegner finden in den Spalten von Schweizer Blättern Platz. So übernahm die «Handelszeitung» letztes Jahr einen polemischen Kommentar vollständig, der sich gegen Obamas Sozialpolitik und Konjunkturprogramm richtete. Originalton: «Die Demokraten haben die Rezession vorsätzlich als politisches Vehikel benutzt, um das Einkommen umzuverteilen.» Der Kommentar erschien ohne einen Hinweis auf den parteipolitischen Hintergrund des «Wall Street Journal». Die Schweizer Leserschaft musste daher annehmen, dies sei die unabhängige Meinung eines respektablen US-Wirtschaftsblatts, wiedergegeben von einer ebenso respektablen Schweizer Zeitung.
Die Journalisten verleihen dem «Wall Street Journal» einen grossen Stellenwert. So schrieb der Ringier-Wirtschaftsdienst «Cash online» im August: «WSJ-Artikel reisst Bankaktien in die Tiefe.» Das Blatt habe geschrieben, die US-Notenbank hätte von den europäischen Banken Klarheit über die finanziellen Verhältnisse ihrer US-Töchter eingefordert: Der Leser versteht in dieser Berichterstattung bis zum Schluss nicht, ob die europäischen Banken in den USA tatsächlich in einem derart schlechten Zustand sind. Oder ob das «Journal» lediglich die Ängste der Anleger mit einer Mutmassung schürte.
Anscheinend erliegen die Investoren genauso wie die Journalisten dem Ruf des «Wall Street Journals», wie eine Studie des französischen Instituts Ipsos Media CT letztes Jahr ergab. Es befragte 450 000 Manager in 17 europäischen Ländern. Fazit: «Das Wall Street Europe ist die wirkungsvollste paneuropäische Marke, um das Top-Management zu erreichen.»
Beeinflussung der Börse mit vagen Andeutungen
Der Ökonom Klaus Wellershoff spricht in der NZZ von einem «Kaskadeneffekt»: Die Medien beeinflussten sich gegenseitig: «Wir wissen, dass alle Berichterstatter häufig selbst Medien als Quellen benutzen.» Auch die Konkurrenten «Financial Times und der «Economist» finden gemäss Wellershoff häufig Erwähnung, sind jedoch weltanschaulich viel unabhängiger als das «Wall Street Journal».
Der Glaube der Schweizer Medien an das US-Blatt ist unerschütterlich – nicht nur bei der Wirtschaftsberichterstattung. So beruft sich «20 Minuten Online» mit der Behauptung auf das «Journal», der arabische Kleinstaat Katar habe bei der Vergabe der Olympischen Spiele fürs Jahr 2022 Argentinien knapp 80 Millionen Franken für die Unterstützung angeboten.
Und das Heft «L’Hebdo» spekuliert gar mit Hinweis auf das US-Blatt über die englische Thronfolge. «Geht die Krone an Prinz Charles, ist das beste Werbung für die Antimonarchisten.» Vielleicht dereinst falsch, vielleicht richtig – immerhin stammt die Prognose vom «Wall Street Journal».