Im Kreuzfeuer der Kritik
Unnötige Therapien für Patienten, doppelt verrechnete Medikamente, horrende Rechnungen für Behandlungen, die nie durchgeführt wurden - die Vorwürfe der Krankenkassen an die Hirslanden-Gruppe mit ihren Privatkliniken sind massiv: «Sie betreibt Gewinnmaximierung auf Kosten der Prämienzahler.»
Inhalt
Gesundheitstipp 7+8/2003
02.07.2003
Thomas Grether - thgrether@pulstipp.ch
Klara Rüedlinger, 87, aus Zürich war gestürzt und hatte starke Schmerzen. Um einen Bruch auszuschliessen und die demente Frau wieder gehfähig zu machen, wurde sie von ihrem Hausarzt in die Klinik Hirslanden überwiesen - keine lebensbedrohliche Situation. Doch kaum war die Rentnerin dort, «fielen einige Ärzte wie Vertreter über sie her, die ihr Angebot verkaufen wollen», berichtet Inge Rüedlinger, die ihre Mutter begleitet hatte.
Aus den Klinik-Unterlagen, die dem Puls-Ti...
Klara Rüedlinger, 87, aus Zürich war gestürzt und hatte starke Schmerzen. Um einen Bruch auszuschliessen und die demente Frau wieder gehfähig zu machen, wurde sie von ihrem Hausarzt in die Klinik Hirslanden überwiesen - keine lebensbedrohliche Situation. Doch kaum war die Rentnerin dort, «fielen einige Ärzte wie Vertreter über sie her, die ihr Angebot verkaufen wollen», berichtet Inge Rüedlinger, die ihre Mutter begleitet hatte.
Aus den Klinik-Unterlagen, die dem Puls-Tipp vorliegen, geht hervor, dass die alte Frau achtmal geröntgt wurde: Brustkorb, Lendenwirbelsäule, Schädel, darunter teure Computer-Tomografien und Magnetresonanz-Aufnahmen. Dazu kam ein Herz-Ultraschall. Einen Bruch fanden die Ärzte nicht. Dafür klärten sie zusätzlich ihre Demenz ab. Inge Rüedlinger ärgert sich: «Sie informierten mich nicht vorgängig darüber, sondern machten mit meiner Mutter, was sie wollten.»
Diese habe sich zudem vor den Untersuchungen zunehmend gefürchtet. «Wir sprachen uns deshalb klar gegen das Röntgen des Rückens und eine Knochendichtemessung aus. Doch die Ärzte drängten uns dazu, nahmen uns nicht ernst.»
Auch Rüedlingers Hausarzt, der anonym bleiben will, sagt: Die Ärzte hätten über seinen Auftrag hinaus weitere Untersuchungen vorgenommen, ohne Rücksprache zu nehmen. Täglich bis zu fünf Klinik-Ärzte kümmerten sich um Klara Rüedlinger - und klärten sogar Beschwerden ab, die zuvor andere Spitäler bereits untersucht hatten.
Kein Einzelfall. In Ärztekreisen ist es ein offenes Geheimnis, dass Patienten in Hirslanden-Kliniken übertherapiert werden. Der Leiter einer grossen HMO-Ärztepraxis im Raum Zürich spricht von «unnötigen» Abklärungen, die «oft übers Ziel hinausschiessen». Man «schleuse» Kranke durch viele Untersuchungen hindurch.
Dabei würden die Patienten von einem Spezialarzt zum nächsten «weitergereicht» und bekannte Leiden oft nochmals abgeklärt. «Ich habe Rechnungen gesehen, die waren geradezu grotesk hoch», sagt der HMO-Leiter, der anonym bleiben will. Er hat die Konsequenzen gezogen: «Wir überweisen aus diesen Gründen kaum noch Patienten in die Klinik Hirslanden.»
Auch Margrit Kessler von der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO) stellt fest, Klara Rüedlinger sei nicht die erste Patientin, die in der Klinik Hirslanden «massiv übertherapiert» worden sei. Im Fall der Rentnerin bedeutete dies: drei Wochen Klinikaufenthalt - und eine Rechnung von über 47 000 Franken.
Die Tochter habe «nie» Bedenken wegen Untersuchungen geäussert, behauptet dagegen die betreuende Hirslanden-Ärztin Gerda Hajnos. Es sei bei den Röntgenaufnahmen darum gegangen, die Patientin «wieder mobil und funktionstüchtig herzustellen». Sie habe einen akuten Infekt bekommen. Die Tochter habe darauf bestanden, dass alles getan werde, damit die Mutter wieder wie zuvor zu Hause von ihr betreut werden könne.
Arzt als Notfallpatient: «Ich fühlte mich überfahren»
Hirslanden-Konzernleiter Robert Bider sagt, es sei nicht zutreffend, dass Hirslanden-Kliniken mit Behandlungen übers Ziel hinausschiessen. Bider schiebt die Verantwortung auf die Ärzte ab: «Nur sie können Behandlungen anordnen.»
«Zu offensiv» behandelt und sogar «überfahren» fühlte sich auch der Arzt Thomas Walser, medizinischer Berater des Puls-Tipp. Er suchte letztes Jahr selbst als Patient den Notfall auf - wegen Blut im Urin. Statt ihm eine Tablette zu geben, habe man das Antibiotikum über eine Infusion verabreicht. «Die lässt sich teurer verrechnen», sagt Walser. Darauf hätten die Ärzte ihm eine Spiegelung der Blase derart «aufdrängen» wollen, dass er sich habe wehren müssen. Aus medizinischer Sicht sei es sinnvoll, vor einer Spiegelung die Wirkung des Antibiotikums abzuwarten.
Fritz Horber, Arzt und Leiter der Notfallstation, weist diese Vorwürfe zurück. Es habe «Sinn» gemacht, eine Infusion zu legen, um später nötige Massnahmen ohne «erneuten Stich» durchführen zu können. «Die Kosten sind für eine Untersuchung an einem Sonntag sicher nicht zu hoch.» Die Blasenspiegelung sei angezeigt gewesen, um ein Geschwür auszuschliessen.
Jetzt gehen auch Krankenkassen auf die Barrikaden. «Die Hirslanden-Gruppe verfolgt eine Strategie der Gewinnmaximierung auf Kosten der Prämienzahler», sagt etwa Stephan Michel von der Krankenkasse CSS. Alarmiert sei man seitletztem Dezember, als die Hirslanden-Gruppe an britische Investoren verkauft wurde - und Anlagespezialisten das Sagen haben. Das laut Hirslanden-Jahresbericht 2002 «massive innere und äussere Wachstum» soll weitergehen (siehe Kasten). Um diese Ziele zu erreichen, würden Hirslanden-Kliniken zum Teil «unkorrekte» und «missbräuchliche» Rechnungen stellen, monieren die Kassen. Dies bestätigt auch Louise Leserri, Sprecherin der Concordia-Versicherung. Kliniken der Hirslanden-Gruppe sowie die dort tätigen Ärzte stellen laut Leserri sogar «systematisch» überhöhte Rechnungen.
Stephan Michel ergänzt, dass die CSS deshalb seit rund einem Jahr unkorrekte Beträge in den Rechnungen streiche. Hochgerechnet auf die letzten Jahre gehen die Fehlberechnungen in die Millionen. Bei der CSS sind innerhalb eines Jahres 680 000 Franken zusammengekommen. Die Klinik-Chefs wollen die Krankenkasse deshalb vor Gericht ziehen. Hirslanden-Konzernleiter Robert Bider: «Wir haben bereits die ersten Schritte für einen Musterprozess eingeleitet.»
Pro Patient bis zu 30 000 Franken zu viel verrechnet
Dem Puls-Tipp liegen mehrere Rechnungen vor. Sie zeigen, wie Spitäler, aus Sicht der Kassen, überhöhte und unkorrekte Rechnungen stellen. Die Vorwürfe sind happig:
- Die Hirslanden-Gruppe verrechne Leistungen doppelt - zum Beispiel Medikamente.
- Sie stelle Rechnung für nicht durchgeführte Behandlungen.
- Sie überzeichne den Schweregrad der Krankheit von Intensivpatienten und verlange dafür ungerechtfertigt hohe Summen.
- Sie verordne unnötige Sitzwachen für Tausende von Franken.
So verrechnen Hirslanden-Kliniken laut den Kassen bei der Operation von Privatpatienten Medikamente, Spritzen oder Katheter einzeln, obwohl diese bereits bezahlt sind. «Dieses Verbrauchsmaterial ist gemäss Spitalleistungs-Katalog (SLK) in der Operations-Saaltaxe enthalten», erklärt CSS-Sprecher Stephan Michel. Das Hirslanden-Spital jedoch verrechne es «grundsätzlich doppelt».
Zusätzlich und damit falsch verrechnet würde nach gleichem Muster auch der Gebrauch von Laser- und Ultraschallgeräten, Bildschirmen und Röntgenapparaten. Höhe der Fehlverrechnung zu Lasten der CSS-Krankenkasse: bis zu 30 000 Franken - pro Patient.
Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Halbprivatabteilung: Hier missachte die Hirslanden sogar bestehende Verträge, doch die Kliniken stellen laut Michel die Fehlverrechnung «nicht konsequent ab».
Auch die Grundversicherung ist - laut Concordia - kostenmässig betroffen, etwa bei ambulanten Herzuntersuchungen. «Hirslanden-Ärzte stellen hier ebenfalls regelmässig Beträge in Rechnung, die bereits an die Klinik vergütet worden sind», sagt Krankenkassen-Sprecherin Louise Leserri.
Die Grundversicherung bezahlt jeweils dann, wenn ein Patient sich ambulant in einer der Hirslanden-Kliniken behandeln lässt. Letztes Jahr waren dies über 38 000 Personen.
Hirslanden-Chef schiebt den schwarzen Peter ab Hirslanden-Konzernleiter Robert Bider weist diese Vorwürfe als «unangebracht und unzulässig» zurück. «Die Abrechnungs-Systematik ist seit 1986 dieselbe und gab nie Anlass zu Beanstandungen. Unsere Abrechnungspraxis erfolgte ausschliesslich gemäss den gültigen Tarifvereinbarungen im Bereich der Privatabteilungen.» Die Beanstandung der Concordia in der Grundversicherung sei ein Einzelfall. Nicht die Klinik, sondern der Arzt sei hier verantwortlich. «Die Abrechnung der medizinischen Leistung erfolgt durch den Arzt als freier Unternehmer.»
Doch Kliniken der Hirslanden-Gruppe stellen laut der Krankenkasse CSS «immer wieder» Dialysen in Rechnung, obwohl in Tat und Wahrheit «weder Dialysegeräte gebraucht, noch Dialysen durchgeführt werden».
Spezialisten der CSS haben die Hirslanden-Gruppe im Fall solcher wiederholten Fehlverrechnung in der Höhe von jeweils 1700 Franken überführt. Stephan Michel: «Die Hirslanden gab vor, diese Dialysen vorgenommen zu haben, während die Herz-Lungen-Maschine lief.»
Dass da etwas nicht stimmen kann, erkennen aber nur Experten: Es ist nämlich gar nicht möglich, eine klassische Dialyse bei Patienten vorzunehmen, die an der Herz-Lungen-Maschine angeschlossen sind. Erst nach mehrmaligem Nachhaken räumte die Klinik ein, dass es sich «eher» um eine Hämo-Filtration als um eine Dialyse gehandelt habe - und musste die Rechnung kürzen. Hirslanden-Chef Robert Bider will dazu nicht konkret Stellung nehmen. Man rechne ausschliesslich laut der Verträge mit allen anderen Versicherungen ab.
Auch auf der Intensivstation soll die Hirslanden die Kosten hinaufgetrieben haben. Um dies zu dokumentieren, liess die CSS Anfang 2000 ein Gutachten zu einem exemplarischen Fall anfertigen. Der Gutachter, eine Schweizer Koryphäe aus der Intensivmedizin, kommt zu einem klaren Schluss: Die Hirslanden habe «den Schweregrad des Zustands dieses Patienten massiv überzeichnet».
Statt angemessener 72 Stunden habe die Hirslanden 464 Stunden für die teuerste Pflegekategorie in Rechnung gestellt. Folge: Eine um 16 000 Franken zu hohe Rechnung. Kein Einzelfall, sagen Versicherungen wieder. Von solchen - laut Concordia-Sprecherin Louise Leserri - «überzogenen» Verrechnungen habe die Hirslanden erst abgelassen, als letzten Sommer die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) einschritt.
«Wir haben die Hirslanden-Gruppe mehrfach aufgefordert, korrekt Rechnung zu stellen. Dies wurde aber während Jahren ignoriert und hat sich erst in letzter Zeit gebessert», sagt CSS-Sprecher Stephan Michel. Für Hirslanden-Chef Robert Bider handelt es sich um «Differenzen, die längst einvernehmlich gelöst worden sind».
Bei Patientin Klara Rüedlinger ordneten Hirslanden-Ärzte eine Sitzwache an, nachts, für den Notfall. Doch dabei blieb es nicht. Bei der Durchsicht der Spitalrechnung fällt auf: Die Hirslanden stellte an mehreren Tagen für 24 Stunden Sitzwachen in Rechnung. Auch tagsüber, wenn die Tochter die Rentnerin in der Klinik betreute. «Die Sitzwache tagsüber ist deshalb eine überflüssige Massnahme, aber eine lukrative zusätzliche Einnahmequelle», sagt Margrit Kessler von der Patientenorganisation.
Mehrere Krankenkassen bestätigen: «Kliniken der Hirslanden-Gruppe verrechnen oft Sitzwachen, ohne dass diese nötig sind.» Dem Puls-Tipp liegen Sitzwachen-Rechnungen für über 20 000 Franken vor - für einen einzigen Patienten. «Wir mussten einige Rechnungen zurückweisen», sagt Helsana-Sprecher Christian Beusch.
Pikant: Die Sitzwachen übernehmen auch pflegerische Tätigkeiten, obwohl dafür das Pflegepersonal bezahlt wird. CSS-Sprecher Michel moniert, dass Kliniken der Hirslanden-Gruppe so «lukrativ einen Mangel an Pflegepersonal kompensieren». Hirslanden-Chef Bider weist die Vorwürfe entschieden zurück. Er schiebt die Verantwortung wiederum ab: «Sitzwachen werden durch den Arzt angeordnet und übernehmen keine pflegerischen Tätigkeiten», behauptet er.
Auch Klara Rüedlinger hat von der Hirslanden-Klinik eine Rechnung für Sitzwachen erhalten: über 7000 Franken. Doch die 87-Jährige sitzt noch immer auf der Rechnung. Die Krankenkasse weigert sich, diese zu bezahlen.
Massives Wachstum - mit Hilfe der Sendung «Gesundheit Sprechstunde»
Der Verkauf sorgte für Aufsehen: Am 5. Dezember 2002 ging die Hirslanden-Gruppe für 930 Millionen Franken an die britische Beteiligungsgesellschaft BC Partners. Ausländische Finanzinvestoren haben jetzt in der Gruppe das Sagen - zu ihr gehören zwölf Spitäler in der ganzen Schweiz.
Allein in den Jahren 2001 und 2002 sind fünf Kliniken dazugekommen. Das Wachstum soll weitergehen: Hirslanden-Chef Robert Bider möchte gemäss Presseberichten die Zahl der Kliniken in der Schweiz auf 15 bis 20 erhöhen. Laut einem Bericht der «Neuen Zürcher Zeitung» schwebt ihm sogar «die Bildung eines europäisch verankerten Spitalkonzerns» vor. Fernziel: Der Gang an die Börse. Diese Ziele verfolgt die Gruppe mit aggressivem Marketing.
So sponsert sie schon lange die Sendung «Gesundheit Sprechstunde» im Fernsehen DRS. Immer wieder treten dort Hirslanden-Ärzte auf. Am 2. März dieses Jahres waren sieben Ärzte im Studio - vier davon kamen aus der Hirslanden-Gruppe. Am 22. Juni waren drei Hirslanden-Ärzte zu Gast.
Die Sendung sei «eine Werbeplattform, die neue Patienten bringe. Letztlich schlägt sich das in steigenden Kassenprämien nieder», monieren kritische Ärzte. Laut Hirslanden-Konzernleiter Bider ist dies «eine Behauptung, die generell umstritten ist».
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Puls-Tipp, «Rechnungen», Postfach, 8024 Zürich
«Die Ärzte informierten mich nicht, sondern machtenmit meiner Mutter, was sie wollten»
Inge Rüedlinger (hinten), Tochter der Patientin Klara Rüedlinger
«Die Hirslanden-Gruppe verfolgt eine Strategie der Gewinnmaximierung auf Kosten der Prämienzahler»
Stephan Michel, Sprecher der Krankenkasse CSS
«Die Vorwürfe der Krankenkassen sind unangebracht und unzulässig»
Robert Bider, Hirslanden-Konzernleiter