Seit anderthalb Jahren gilt im Fernverkehr die Billettpflicht. Das heisst: Wer bei der Kontrolle kein Billett oder ein falsches vorweist, wird gebüsst. Der Billettkauf im Zug ist nicht mehr möglich.

Zwar sagte ein SBB-Sprecher bei der Einführung der Billettpflicht, die Kondukteure hätten die Anweisung, die Billettpflicht mit Augenmass und Kulanz durchzusetzen. Doch von Kulanz und Augenmass haben die Passagiere seither wenig gespürt.

Vielmehr sagte SBB-Chef Andreas Meyer, als er vor einem Monat gewisse Korrekturen ankündigte, dem «Kassensturz»: «Die Regeln waren sehr starr. Zum Teil mussten wir eine Null-Toleranz-Politik anwenden.»


Seltsam: Bussen um 20 Franken reduziert

Doch warum sagte Meyer «mussten»? Wer hat die SBB zur «Null-Toleranz-Politik» gezwungen? Das hätte der K-Tipp gerne von den SBB erfahren. Doch die SBB geben dem K-Tipp seit Monaten keine Auskunft mehr – aus Protest gegen die Service-public-Initiative.

Eigenartig ist in diesem Zusammenhang auch die Arbeit des SBB-Inkassocenters. Immer häufiger melden sich beim K-Tipp Leserinnen und Leser, die dort reklamiert hatten und sich dann wunderten, dass die SBB nicht an der Busse festhielten und sie auch nicht strichen, sondern ohne Begründung um 20 Franken reduzierten. Gegenwärtig passiert das schon fast systematisch. Offenbar geht es darum, die Gebüssten zu besänf­tigen.

Jedenfalls sind die SBB arg in Bedrängnis. Wie ­erwähnt, hat SBB-Chef Meyer für den 1. Juni ­Korrekturen angekündigt. Nun darf das Personal laut Meyer wieder «ge­sunden Menschenverstand» walten lassen. Doch die per


1. Juni gross angekündigten Korrek­turen sind eher dürftig:

  • Online- und Mobile-Billette müssen neuerdings gelöst sein, bevor der Zug fährt, und nicht mehr, ­bevor er laut Fahrplan ­fahren sollte.
  • Wer sein Online- oder Mobile-Billett nicht zeigen kann – zum Beispiel weil der Akku leer ist –, hat die Möglichkeit, das nachzuholen. Das kostet 30 Franken. Die Regel gilt schon lange. Offenbar war aber das Personal nicht oder nicht korrekt informiert.
  • Im Grossraum Zürich zahlen Reisende, die «in guter Absicht ein Billett mit falschem Reiseweg ­gelöst» haben, keine Busse mehr. Unklar bleibt, was in anderen Tarifverbünden mit ebenso unsinnigen ­Tarifen geschieht.
  • Neu bietet der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) ratlosen Kunden am Telefon Gratis-Hilfe an – was nichts anderes ist als eine Bankrotterklärung fürs ­Tarifsystem.
  • Und der Billettkauf im Grossraum Zürich soll ­vereinfacht werden – allerdings erst in ein paar ­Monaten.


Die Transportunternehmen konnten mit diesen Massnahmen nicht verhindern, dass das Bundesamt für Verkehr Untersuchungen eingeleitet hat: und zwar wegen der Billettpflicht im Fernverkehr und wegen der unmöglichen Tarifverbund-Billette.


Seltsam: Kolumne von Jeannine Pilloud

Wenig vertrauensbildend war in diesem Zusammenhang auch die ­Kolumne, die die Chefin der SBB-Abteilung Personenverkehr, Jeannine Pilloud, Mitte Mai im «Blick am Abend» schrieb. Ein­leitung: «Erwischt. Meine Tochter und ich sind auf dem Heimweg in eine Kontrolle geraten. Wir hatten vergessen, unsere Mehrfahrtenkarte abzustempeln.»

Womit sie die Leser überraschte. Denn die fragten sich zu Recht: ­Wofür braucht denn Frau Pilloud eine Mehrfahrten­karte? Die hohen SBB-Chefs und ihre Familien erhalten doch alle gratis ein GA für die 1. Klasse.

Interessant ist auch der Schluss der Kolumne: «In unserem Fall haben wir uns darauf geeinigt, eine anstatt zwei Bussen zu zahlen.» Das schrieb Jeannine Pilloud zu einem Zeitpunkt, als die SBB laut Andreas Meyer «eine Null-Toleranz-Politik anwenden mussten». Hat die SBB-Managerin den Kondukteur etwa dazu angestiftet, die Vorschriften zu missachten?

Natürlich nicht. Der Vorfall habe sich im Ausland abgespielt, behauptet Pilloud gegenüber dem K-Tipp nachträglich. In welchem Land genau, sagt sie allerdings auch auf Nachfrage nicht.

Fakt ist: Der Leser musste den Eindruck erhalten, es gehe um die Schweiz. Da ist nämlich die Rede von «wachsenden Tarif­verbünden» – einer Schwei­zer Spezialität. Von «un­serem Tarifsystem», von «unseren Kundinnen und Kunden», von «unseren Zugbegleitern und Kontrolleuren». Und davon, dass «die verschiedenen Systeme und Tarife vereinfacht werden müssen».

Mit anderen Worten: Der Verdacht liegt nahe, dass Pillouds Kolumne frei erfunden war – reine Werbung und eine PR-­Aktion für die SBB.