Fernost liegt in Osteuropa
Bei einem Ladenpreis von 50 Franken für ein T-Shirt verdient die Näherin rund Fr. 2.50. Wer kassiert den Rest?
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Haus & Garten 2/2004
05.05.2004
Jean François Tanda, Andreas Valda
Sale, Soldes, Saldi», steht landauf, landab bald monatelang auf Schaufensterplakaten der Kleiderläden. Viele Schweizer Anbieter übertrumpfen sich im Ausverkauf mit Rabatten von 30, 50 oder gar 70 Prozent. Dies registrierte sogar das Bundesamt für Statistik: Es stellte im Januar eine rückläufige Teuerung fest. Schuld daran waren zum grossen Teil die um durchschnittlich 14 Prozent tieferen Kleiderpreise.
Dies steht im krassen Gegensatz zur Aussage von Drittwelthilfsorganisatio...
Sale, Soldes, Saldi», steht landauf, landab bald monatelang auf Schaufensterplakaten der Kleiderläden. Viele Schweizer Anbieter übertrumpfen sich im Ausverkauf mit Rabatten von 30, 50 oder gar 70 Prozent. Dies registrierte sogar das Bundesamt für Statistik: Es stellte im Januar eine rückläufige Teuerung fest. Schuld daran waren zum grossen Teil die um durchschnittlich 14 Prozent tieferen Kleiderpreise.
Dies steht im krassen Gegensatz zur Aussage von Drittwelthilfsorganisationen wie der «Erklärung von Bern»: «Detailhändler in der Kleiderbranche erzielen jährlich 20 bis 30 Prozent Unternehmensgewinn», sagt Stefan Indermühle, Koordinator der «Clean Clothes Campaign» für einen fairen Handel. Konkret: Zahlt man im Geschäft 100 Franken für ein Kleidungsstück, fliessen laut Indermühle 20 bis 30 Franken in die Kasse des Unternehmers.
Indermühle meint damit die so genannte Nettomarge - den Gewinn. Sie ist nicht zu verwechseln mit der Bruttomarge. Kauft der Kleiderhändler einen Rock für 5 Franken ein und verkauft ihn für 15 Franken, beträgt die Bruttomarge 10 Franken. Beide Margen sind Firmengeheimnisse: Zara - nach Gap und H & M -, die drittgrösste Kleiderverkaufskette der Welt, will keine Auskunft geben. Auch das Schweizer Warenhaus Globus lehnte es ab, sich bei den Brutto- und Nettomargen in die Karten blicken zu lassen. Und H & M erklärt einzig, wie der niedrige Preis zustande komme: tiefe Transportkosten, Know-how und die grosse Menge abgesetzter Kleidungsstücke, nämlich 500 Millionen pro Jahr. Dabei spiele die Herstellung in Fernost eine vergleichsweise kleine Rolle.
Harter Konkurrenzkampf - Konsumenten profitieren
Auch die Beratungsunternehmen schweigen, denn sie würden Geschäftsgeheimnisse ihrer Kunden verraten. Wolf Wagner, Deutschlandchef von Kurt Salmon Associates (KSA), dem weltweit tätigen Beraterunternehmen im Textilbereich, sagt: «Margen-Berechnungen gehören zu den Kerngeheimnissen des Business.»
Immerhin zwingt die Börse die beiden internationalen Kleiderkonzerne Inditex (Zara) aus Spanien und H & M zu einer gewissen Transparenz gegenüber den Aktionären. Schaut man sich die Jahresrechnungen von Zara an, stellt man fest, dass der Gewinn je nach Quartal zwischen 9 und 22 Prozent schwankt. Bei H & M belief sich die Betriebsmarge in den letzten fünf Jahren auf 12 bis 18 Prozent. Mit anderen Worten: Bei einem Push-up-BH für Fr. 19.90 gehen Fr. 2.40 bis Fr. 3.60 in die Tasche der Firmen.
Sicher ist: Der Konkurrenzkampf unter den Anbietern hat sich massiv verschärft, die Preise für Bekleidung sind über die Jahre hinweg immer tiefer gesunken. Dies zeigt etwa der Anteil der Haushaltsausgaben für Kleider: 1950 kaufte man mit einem Lohn von 1000 Franken für 94 Franken Kleider und Schuhe. Heute gibt man von 1000 Franken Lohn nur noch 42 Franken für die gleiche Warengruppe aus. Deren Anteil am Warenkorb hat sich von 14 auf 6 Prozent reduziert. Möglich wurde dies, weil ein Mantel oder ein paar Schuhe früher viel mehr kostete als heute. Dass dies so ist, hat seine Gründe. Mit dem Welthandel hat sich Europa in den 70er-Jahren Tiefstlohnländer im Fernen Osten erschlossen (siehe auch Grafik).
Die einzige öffentlich zugängliche Studie über die Produktionskosten im Kleiderbereich stammt aus dem Jahr 2001 vom erwähnten Beratungsunternehmen KSA. Verglichen werden 55 Länder aus Europa, Asien und Lateinamerika. Wichtigste Folgerung: China und Bangladesh, auf Kleideretiketten oft deklarierte Herstellungsländer, gehören nicht (mehr) zu den günstigsten Produktionsstandorten. Europäische Länder wie Rumänien (dort produzieren zum Beispiel H & M, Mango, Oviesse) und nordafrikanische Länder wie Marokko (Tally Weijl) halten im Wettkampf um die tiefsten Löhne fleissig mit, sodass die bei uns erhältliche Mode dort zum Teil günstiger hergestellt werden kann als in Fernost.
Näherinnen arbeiten noch immer für Hungerlöhne
Die einzigen Quellen für Angaben zur Verteilung von Bruttomarge und Gewinn sind Entwicklungshilfeorganisationen. «Brot für alle» zum Beispiel zeigte anhand eines T-Shirts von Veillon auf, wie sich der Ladenpreis à Fr. 50.- zusammensetzt:
Die Näherin des in Fernost produzierten Shirts erhält umgerechnet Fr. 2.50. Bis es im Lager von Veillon ankommt, sind Transport, Zölle und Lieferanten bezahlt worden. Die Werbung kostet weitere Fr. 9.-, die Löhne Fr. 8.75 und das Lager Fr. 6.-. Bleiben also Fr. 6.25 Nettogewinn. Das sind 12,5 Prozent des Ladenpreises.
Auf einen höheren Gewinn kommen die Autoren des Buches «Mode, Marken, Märkte». Dort werden anhand einer Jeans zum Preis von 60 Franken die Gestehungskosten wie folgt errechnet: Stoff und Knöpfe kosten Fr. 7.85, die Näherin bekommt Fr. 4.-. Die Veredelung zu «stone washed» kostet noch einmal so viel, und der Lieferant erhält Fr. 3.- für Verwaltung und als Risikoabgeltung. Mit den Transportkosten von Fr. 1.50 kommt die Jeans für Fr. 34.50 ins Lager des Detailhändlers. Er verkauft die Hose für Fr. 62.80 - schlägt also 45 Prozent drauf. Damit muss er Verkaufspersonal, Miete und Werbung bezahlen. Der Nettogewinn hängt davon ab, wie gut die Ware zum Normalpreis verkauft werden kann.
Quintessenz: Näherinnen - ob in Fernost oder Europa - erhalten nach wie vor Hungerlöhne. Durch die vollständige Liberalisierung im Textilmarkt ab Ende 2004 dürfte der Druck auf diese Löhne sogar noch zunehmen. Fachleute sind der Ansicht, dass vor allem China mit seinen Billiglohnkapazitäten noch viel mehr zulegen wird - zulasten aller anderen Billiglohnstandorte der Welt.
Auch der Rohmaterialpreis hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Marge. Wolf Wagner von der KSA sagt: «Steigt der Rohstoffpreis von Baumwolle, Leinen, Pelz oder Wolle, kann er dem Kunden nicht weiterverrechnet werden.» In solchen Fällen sinkt deshalb der Gewinn der Kleiderverkäufer.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Vermarktungsstrategie. H & M, Vero Moda oder Tally Weijl setzen auf eigene Marken mit tiefen Preisen, aber hohen Umsatzmengen. Armani, Dolce e Gabana oder Versace hingegen stecken viel Geld in die Werbung, verkaufen ihre Produkte teuer und kompensieren so ihre kleineren Absatzmengen.
Ein Brancheninsider illustriert dies am Beispiel einer Unterhose: Ein Markenslip, zum Beispiel von Armani, kostet im Laden 60 Franken. Der reine Warenwert aber beträgt nur 4 Franken. Ganze 40 Franken verschlingen der Verkauf, der Laden und vor allem die Werbung. Pro Unterhose verdient der Verkäufer also 16 Franken, die Nettomarge beläuft sich damit auf 27 Prozent.
Mit Test-Kollektionen erst die Nachfrage abklären
Auch im Unternehmensprinzip unterscheiden sich die einzelnen Anbieter: H & M und Oviesse kaufen in grossen Mengen zu sehr tiefen Preisen ein. Dafür steckt etwa H & M viel Geld in die Werbung, um sicherzustellen, dass die Ware auch tatsächlich über den Ladentisch geht.
Umgekehrt stellt Mango die einzelnen Kollektionen in kleinen Mengen her und präsentiert sie dann im Laden. Übertrifft die Kundennachfrage das Angebot der Testkollektion, lässt Mango sofort nachproduzieren. Innerhalb weniger Tage kommt dann Nachschub aus Rumänien in die Läden. Das nennt sich «Just in time»-Produktion.
Damit verhindert Mango zu grosse Abschreibungen (Verluste) für die so genannte modische Entwertung, die bei anderen Firmen bis zu einem Fünftel der Bruttomarge wegfressen kann: H & M zum Beispiel musste vor vier Jahren, als die Hippie-Mode-Revival-Kollektion floppte, die Preise massiv senken, um die Ware loszuwerden.
«Das Entscheidende im Bekleidungsmarkt ist, den Kundengeschmack zu treffen», sagt Wagner von der KSA. Ist dies der Fall, «kann man fast jeden Preis verlangen». Die Kundschaft als unberechenbarer Faktor entscheidet also mit, ob Stefan Indermühle von der «Erklärung von Bern» mit seinen Gewinnprognosen richtig liegt oder nicht.
Veillon T-Shirt, Ladenpreis 50 Franken
Lohn Näherin: - Fr. 2.50
Transport/Zölle: - Fr. 4.-
Lieferant: - Fr. 13.50
Lager und Laden: - Fr. 6.-
Werbung: - Fr. 9.-
Löhne: - Fr. 8.75
Gewinn: - Fr. 6.25 (12,5%)
Vergleich Produktionskosten für ein T-Shirt in 9 Ländern (Jahr 2001)
Rumänien - Fr. 1.83
Bangladesh - Fr. 1.88
Marokko - Fr. 2.16
China - Fr. 2.30
Litauen - Fr. 2.45
Polen - Fr. 3.06
Türkei - Fr. 3.25
Frankreich - Fr. 5.57
Italien - Fr. 6.30
Annahmen: Produktionszeit eines T-Shirts: 15 Minuten; Wechselkurs Dollar/CHF 1.30