Die Mär von der gentechfreien Schweiz
Viele Schweizer wollen keinen Gen-Food. Doch wird es immer schwieriger, genfreie Lebensmittel zu erhalten. Die EU will strengere Deklarationsregeln einführen. Der Bund zaudert.
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Haus & Garten 4/2003
24.09.2003
GERY SCHWAGER
Zum Beispiel Soja: Rund 30 000 Lebensmittel enthalten heute Soja-Bestandteile. Und etwa die Hälfte der auf dem Weltmarkt erhältlichen Soja ist genmanipuliert. Das lässt vermuten, dass Tausende von Produkten zumindest Spuren von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) aufweisen.
Denn auch Lebensmittelproduzenten, die nur natürliche Soja verwenden möchten, können Verunreinigungen mit GVO nicht ausschliessen. Der Grund: Auf dem langen Weg von den Hauptanbaugebieten in den US...
Zum Beispiel Soja: Rund 30 000 Lebensmittel enthalten heute Soja-Bestandteile. Und etwa die Hälfte der auf dem Weltmarkt erhältlichen Soja ist genmanipuliert. Das lässt vermuten, dass Tausende von Produkten zumindest Spuren von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) aufweisen.
Denn auch Lebensmittelproduzenten, die nur natürliche Soja verwenden möchten, können Verunreinigungen mit GVO nicht ausschliessen. Der Grund: Auf dem langen Weg von den Hauptanbaugebieten in den USA, Argentinien, Brasilien und Kanada bis nach Europa und in die Schweiz bestehen grosse Gefahren, dass Ladungen von natürlicher Soja mit solchen von gentechnisch veränderter in Berührung kommen.
Soja stäubt sehr stark. Daher besteht insbesondere beim Umschlag an Häfen ein grosses Vermischungsrisiko, wie eine vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) lancierte Studie schon im Februar 2001 festgehalten hat. Aber es kann auch zu Verunreinigungen kommen, wenn in derselben Stätte sowohl GVO- als auch natürliche Ware durch die Anlagen läuft.
Doch solange ein Lebensmittel (oder eine seiner Zutaten) nicht mehr als 1 Prozent GVO aufweist, muss es in der Schweiz nicht als GVO-haltig deklariert werden. Manche Konsumentinnen und Konsumenten glauben deshalb, die Schweiz sei gentechfrei. In Tat und Wahrheit aber werden laut BAG «immer wieder Spuren von GVO in herkömmlichen Erzeugnissen gefunden».
Der Verband der Kantonschemiker der Schweiz meint denn auch nüchtern: «Es wird vermutlich immer schwieriger, völlig GVO-freie Ware zu erhalten.» Bei Mais- und Sojaprodukten rechnen Fachleute damit, dass heute bereits etwa die Hälfte einen GVO-Anteil von 0,2 bis 0,3 Prozent aufweist.
Und in einigen Fällen dürfte dieser Anteil trotz fehlender Deklaration den 1-Prozent-Schwellenwert gar übertreffen. Jedenfalls blieben aus exakt diesem Grunde zwischen 1999 und 2002 in der Deutschschweiz 15 Soja- und 9 Mais-Erzeugnisse in Kontrollen der Kantonschemiker hängen.
Weit strengere Deklarationsvorschriften, als die Schweiz sie kennt, hat diesen Sommer die Europäische Union beschlossen. Dabei geht es weniger um die Kennzeichnungslimite - sie liegt in der Union neu bei einem GVO-Anteil von 0,9 Prozent.
Die Verschärfung betrifft einen andern Punkt: Künftig müssen in der EU Lebensmittel auch dann als GVO-haltig deklariert werden, wenn sie aus genmanipulierten Pflanzen gewonnene Zutaten enthalten, in denen keine GVO mehr nachweisbar sind. Das kann konkret bei veredelten Erzeugnissen wie Öl, Stärke, Lecithin und Zucker der Fall sein.
Die EU kennt viel strengere Vorschriften als die Schweiz
In hochreinem Lecithin aus gentechnisch veränderter Soja zum Beispiel ist die Genveränderung nicht mehr feststellbar. Deshalb musste Schokolade mit dieser Zutat bislang nicht als GVO-haltig deklariert werden. Ab Frühling 2004 aber braucht sie in der EU ein Gentech-Label. «Auf den Aha-Effekt in der Bevölkerung bin ich schon sehr gespannt», zitiert das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» dazu den hämischen Kommentar eines Vertreters des Saatgutriesen Syngenta.
Mit den neuen Kennzeichnungsregeln will die EU aber nicht nur die Transparenz im Lebensmittelregal verbessern. Sie hat auch ein politisches Ziel: die Aufhebung ihres inzwischen fünf Jahre alten Moratoriums für die Zulassung neuer GVO-Erzeugnisse. Der definitive Entscheid in dieser Sache soll noch im Herbst fallen.
Im Gegenzug erhofft sich die EU ein Ende des Handelsstreits mit den USA - jedoch höchstwahrscheinlich vergebens. Die USA, die mit Abstand die weltweit grösste Anbaufläche für genmanipulierte Pflanzen beackern, haben Anfang August nämlich mit einer Klage bei der Welthandelsorganisation WTO unterstrichen, dass sie weder ein Moratorium noch die neuen Deklarationsvorschriften der EU akzeptieren wollen.
Migros und Coop wollen gentechfrei bleiben
Anders die Schweiz: Hier schreibt das neue Gentechnikgesetz (siehe Kasten) vor, dass der Bundesrat bei den GVO-Deklarationsvorschriften auch die Aussenhandelsbeziehungen berücksichtigen muss. Es ist somit denkbar, dass die Schweiz die strengen EU-Regeln mittelfristig übernimmt - auch wenn das BAG dies vorerst bloss mit einem zurückhaltenden «Das wird sich noch weisen» quittiert.
Migros und Coop jedenfalls rüsten sich schon mal für alle Eventualitäten. Beide führen derzeit keine deklarationspflichtigen GVO-Erzeugnisse im Sortiment. Und beide wollen nach eigenen Angaben an dieser Praxis auch «so lange wie möglich» festhalten.
Schwierig wird das spätestens, wenn der Bundesrat tatsächlich einmal strenge Deklarationsregeln nach EU-Muster erlassen sollte. Dann müssten im Schweizer Lebensmittelhandel diverse bislang nicht gekennzeichnete Produkte als GVO-haltig deklariert werden.
Wie viele Erzeugnisse betroffen wären, können die Grossverteiler noch nicht sagen. «Wir haben eine Lieferantenbefragung gestartet und werden bald wissen, wo Handlungsbedarf besteht», sagt Migros-Sprecher Urs Peter Naef. Ähnlich tönts bei Coop.
Kritisieren mag man die strengen Kennzeichnungsbestimmungen der EU nicht. Im Gegenteil: Coop begrüsst die neuen EU-Regeln gar ausdrücklich. Deren Einhaltung könne Coop bei den Bio-Produkten sowie bei Naturaplan-Fleisch und -Eiern schon heute garantieren, da man bereits über die notwendigen «Systeme zur Rückverfolgbarkeit» verfüge, so Coop-Sprecher Jörg Birnstiel. Mit den strengeren EU-Vorschriften lasse sich nun auch die Situation bei den herkömmlichen Lebensmitteln verbessern.
Die Bauern unterstützen die Gentechfrei-Initiative
Coop zieht damit für einmal am gleichen Strick wie der Schweizerische Bauernverband (SBV), der offen für die Übernahme der EU-Vorschriften eintritt. Den SBV-Funktionären ist nicht entgangen, dass Umfragen zufolge rund zwei Drittel der Bevölkerung genmanipulierte Nahrung ablehnen. Solange die hiesige Landwirtschaft streng GVO-frei produziert, kann sie von verschärften Deklarationsregeln daher nur profitieren.
Und damit die Bauern vorderhand gar nicht erst in Versuchung geraten, den «Pfad der Tugend» zu verlassen, hat der SBV auch die Lancierung der Gentechfrei-Initiative unterstützt. Das Begehren, das von diversen Umwelt-, Konsumenten- und Tierschutzorganisationen getragen wird, verlangt im Wesentlichen ein fünfjähriges Verbot für die Einfuhr und den Anbau genmanipulierter Pflanzen und für den Einsatz gentechnisch veränderter Nutztiere. Abgestimmt wird voraussichtlich 2005.
Wird die Initiative abgelehnt, werden, so glaubt der stellvertretende SBV-Direktor Urs Schneider, über kurz oder lang auch in der Schweiz genmanipulierte Pflanzen angebaut, sofern sie «einen spürbaren Vorteil bringen - wie Kartoffeln, die gegen Kraut- und Knollenfäule resistent sind».
Für Maya Graf, Mitinitiantin und Präsidentin der Schweizerischen Arbeitsgruppe Gentechnologie (SAG), wäre dies der Anfang vom Ende: «In der kleinräumigen Schweiz, wo sich Feld an Feld reiht, führt der Anbau genmanipulierter Pflanzen via Pollenflug zwangsläufig zur Verunreinigung gentechfreier Kulturen. Und Massnahmen, die das verhindern könnten, sind technisch kaum mach- und schlicht unbezahlbar.»
Nur Regeln, keine Verbote: Gentech-Industrie hat erfolgreich lobbyiert
Die Schweiz will gentechnisch veränderte Lebensmittel nicht verbieten. Sie schreibt bloss eine Bewilligungspflicht vor.
Noch gilt die Schweiz als «gentechfrei». Lebensmittel müssen erst dann als Gen-Food deklariert werden, wenn sie mehr als 1 Prozent gentechnisch veränderte Organismen (GVO) enthalten oder Zutaten aufweisen, die diesen Wert überschreiten. Solche Lebensmittel gibt es derzeit offiziell nirgends zu kaufen - auch wenn «vereinzelte Ausnahmen nicht völlig auszuschliessen» sind, wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) einschränkt.
Obs dabei bleibt, ist aber offen; gentechnisch veränderte Nahrungsmittel sind nämlich nicht verboten. Zurzeit dürfen eine Soja- und drei Maissorten sowie zwei Vitamine und zwei Lab-Enzyme als GVO-Erzeugnisse importiert und verkauft werden. Fünf weitere Maissorten, vier Enzyme und eine Rapspflanze sind zur Zulassung angemeldet.
Möglich ist ferner, dass ab März nächsten Jahres in der Schweiz erstmals gentechnisch veränderter Weizen wächst. Über das entsprechende Gesuch der ETH Zürich für ein Freisetzungsexperiment in Lindau ZH entscheiden die Bundesbehörden voraussichtlich im Oktober.
Ebenfalls nicht grundsätzlich verboten sind in der Schweiz der kommerzielle Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen und die Anwendung der Gentechnik bei landwirtschaftlichen Nutztieren. Beides müsste allerdings bewilligt werden. Doch laut BAG sind bislang noch nie entsprechende Gesuche eingegangen.
Was Nutztiere in der Landwirtschaft betrifft, dürften solche Gesuche auch kaum mehr eintreffen. Denn das neue Gentechnikgesetz lässt gentechnisch veränderte Wirbeltiere nur noch für Forschung, Therapie und Diagnostik zu. National- und Ständerat haben dem Gesetz im März ihren Segen erteilt; es tritt frühestens Anfang 2004 in Kraft.
Der kommerzielle Anbau genmanipulierter Pflanzen hingegen bleibt - unter Auflagen - auch danach erlaubt. Das Bundesparlament wollte weder ein absolutes noch ein befristetes Verbot gesetzlich verankern. «Industrie und Forschung haben mit allen Kräften für eine schwache Gesetzgebung lobbyiert», bringt es die grüne Nationalrätin Maya Graf, Präsidentin der kritischen Schweizerischen Arbeitsgruppe Gentechnologie, auf den Punkt.