AKW-Störfall: «Bevölkerung ungenügend geschützt»

Zwei Jahre nach Fukushima ist die Schweizer Bevölkerung noch immer schlecht auf einen schweren Störfall in einem Atomkraftwerk vorbereitet. Die Behörden haben den Notfallschutz nicht verbessert.

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saldo 02/2013

06.02.2013

Eric Breitinger

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Kurz nach der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima im März 2011 zog der Bundesrat Konsequenzen: Er beauftragte im Mai eine Arbeitsgruppe aus Experten von Bundesstellen, die Notfallpläne der Schweizer Kernkraftwerke zu prüfen und zu verbessern. Bis Mitte 2012 sollten Entwürfe für Gesetzesänderungen vorliegen.

Diese lassen bis heute auf sich warten. Schon die Arbeitsgruppe lieferte ihren Bericht erst im Sommer 2012 ab statt im Herbst 2011. Seitdem überprüfen einzelne Ämter im Auftrag des Bundesrats Teilaspekte des Katastrophenschutzes. Der Bund verlangt Vorschläge für Gesetzesrevisionen nun erst für Ende 2013.

Den drei eidgenössischen Strahlenkommissionen geht das alles zu langsam: Die Strahlenschutzexperten bescheinigten den Notfallplänen vor kurzem in einem Brief an das Bundesamt für Energie «erhebliche Defizite»: Die Schweizer Bevölkerung sei bei einem schweren AKW-Unfall «ungenügend geschützt». Die Einsatzorgane könnten ihre Aufgaben nicht erfüllen. Die Experten betonen: «Der Handlungsbedarf ist gross und dringlich.» Sie fordern – wie die Arbeitsgruppe des Bundesrates – unter anderem:

Realistische Störfall-Annahmen. Die Behörden sollten die Erfahrungen aus Fukushima in neuen Störfall-Szenarien berücksichtigen. Bisher rechnen sie laut den Kommissionen selbst im «schlimmsten» Szenario mit «10 bis 100 Mal tieferen» Mengen an Radioaktivität, als in Fukushima austraten.
Evakuierungen: Der Staat muss laut den Kommissionen «grossräumige Evakuierungen in Betracht ziehen». Laut einer Studie des Öko-Instituts Darmstadt würde allein bei einem mit Fukushima vergleichbaren Unfall im AKW Mühleberg so viel Radioaktivität freigesetzt, dass die Behörden sofort 80 000 Menschen in der Stadt Bern evakuieren müssten. Weitere 200 000 Menschen müssten ihre Häuser für immer verlassen. Ein Viertel der Schweiz würde radioaktiv verseucht. Bisher müssen die Behörden nur Menschen im Umkreis von 5 Kilometern um ein havariertes AKW «vorsorglich» evakuieren.
Jod für alle: Gemäss den Experten sollten alle Einwohner auf der Alpennordseite vorab Jodtabletten bekommen. Grund: Bei einem AKW-Unfall bleibe kaum Zeit, Tabletten zu verteilen. Bislang bekamen nur die Anwohner im Umkreis von 20 Kilometern rund um die Kernkraftwerke Tabletten, die bei einem AKW-Unfall vor Schilddrüsenkrebs schützen sollen («K-Tipp» 4/12).
Verstrahlte behandeln: Laut den Kommissionen müssen die Behörden die medizinische Versorgung für eine «grosse Anzahl» verstrahlter Menschen sicherstellen, etwa indem sie mit Spitälern oder Ärzten heute Verträge schliessen. Bisher ist die Behandlung kontaminierter Leute ungeklärt.
Die Bevölkerung muss verlässliche Informationen erhalten. Das Problem: Führt ein Störfall zum Stromausfall, funktionieren die öffentlichen Telefon- und Handynetze nur noch wenige Stunden. Auch ist ungeklärt, wie die Behörden danach mit Arbeitern im verunglückten AKW, mit Notfallstäben und Rettungskräften kommunizieren.

Die Kritik zeigt bisher keine Wirkung. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) räumt auf Anfrage «Verzögerungen» beim Erstellen neuer Störfallszenarien ein. Diese lege man im «ersten Halbjahr 2013» vor. Der Bund hatte sie für Ende 2012 verlangt.

Thema Trinkwasser bisher nicht in Notfallpläne einbezogen

Die AKW-Aufseher verschliessen ausserdem die Augen vor den Gefahren für das Trinkwasser. Die Studie des Öko-Instituts Darmstadt warnte, dass nach einem AKW-Unfall in Mühleberg radioaktives Cäsium «auf absehbare Zeit» Gewässer wie die Aare und den Bielersee verseucht. Aus diesem beziehen 50 000 Menschen ihr Trinkwasser. Das Ensi versprach im März 2012 im «Fukushima Aktionsplan», das Thema Trinkwasser erstmals in die Notfallpläne aufzunehmen. Bisher ist nichts passiert.

SP-Nationalrat Beat Jans aus Basel wirft den Behörden und dem Sicherheitsminister fehlendes Interesse an einer zügigen Verbesserung des AKW-Katastrophenschutzes vor: «Sie nehmen die Risiken der Kernkraftnutzung nicht ernst.» Das ist für Jans ein Fehler: Denn Fukushima zeige, dass sich ein für unmöglich gehaltener AKW-Unfall jederzeit ereignen könne.

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