Er versuche, «nicht daran zu denken», sagt Dominique Wüest. Und doch muss der 43-Jährige aus La Tour-de-Peilz im Kanton Waadt damit leben, was vor gut einem Jahr im Atomkraftwerk Leibstadt passierte.
Wüest ist Berufstaucher. Wie immer in den letzten zehn Jahren schickte ihn sein Arbeitgeber im Sommer 2010 nach Leibstadt. Während der jährlichen Revision arbeitete der Taucher in den Wasserbecken des Kraftwerks. Darin sind etwa der Reaktor oder die abgebrannten Brennstäbe untergebracht, denn Wasser schwächt die radioaktive Strahlung zum Teil ab.
Am 31. August wechselte Wüest die Kabel einer Transportanlage aus, die Uran-Brennstäbe in den Reaktor befördert. Er erinnert sich: «Als ich mit der Arbeit fertig war, sah ich ein kurzes Metallrohr am Boden des Beckens.» Per Funk und Kamera war er mit einem Kollegen am Beckenrand verbunden. Dieser sagte ihm, er solle das Rohr aufheben und im Korb mit den anderen Abfällen deponieren. Das tat Wüest. Dann tauchte er auf, wurde mit Wasser abgespritzt und besprach mit seinem Chef den Einsatz. Unterdessen zogen Kollegen den Abfallkorb hoch. Wüest: «Als er noch etwa zwei Meter unter der Wasseroberfläche war, ging der Strahlenalarm los.»
Nach Sekunden war die Hand extrem verstrahlt
Die Angestellten versenkten den Korb rasch wieder, Dominique Wüest wurde ins Spital gefahren. Später stellte sich heraus: Das Metallrohr stammte aus dem Kern des Reaktors und war hoch radioaktiv. Wüest: «Hätte man den Korb ganz aus dem Wasser gezogen, hätten alle im Raum eine tödliche Dosis erhalten.»
So traf es «nur» ihn. Rund 45 Sekunden habe er das Rohr in der Hand gehalten, schätzt er. Das reichte, um ihn massiv zu verstrahlen. Berechnungen des Unispitals Lausanne zeigen: Wüests rechte Hand hat eine Dosis von 7500 Millisievert erhalten. Das ist so viel wie nach 150 000 Röntgenaufnahmen der Brust.
Das AKW Leibstadt bestätigte Dominique Wüests Angaben auf Anfrage. Seine Verstrahlung gilt offiziell als «Zwischenfall». Doch auch im Normalbetrieb bekommen viele Arbeiter happige Strahlendosen: Laut Strahlenschutzbericht des eidgenössischen Nuklearinspektorats (Ensi) haben letztes Jahr 137 AKW-Arbeiter 5 bis 10 Millisievert abbekommen. Das ist zwar unterhalb des Grenzwerts – aber keinesfalls unbedenklich, wie Martin Walter vom Vorstand der Ärzte für soziale Verantwortung klarstellt: «Jede Radioaktivität kann Krebs verursachen. Es gibt keine Schwelle, unterhalb der die Strahlung unschädlich ist.»
Das wissen auch die Behörden. Doch sie lassen die AKW gewähren. Mehr noch: Sie erlauben, dass die Betreiber ihre Arbeiter stärker belasten dürfen als den Rest der Bevölkerung. Für Letztere gilt ein Jahresgrenzwert von 1 Millisievert. Für Personen, die beruflich mit Strahlung zu tun haben, etwa in einem Spital oder einem AKW, sind es 20 Millisievert für den ganzen Körper. Dazu Walter: «Nur dank dieser Sonderregelung können die Betreiber ihre Atommeiler überhaupt am Laufen halten.»
Der Schweizer Grenzwert von 20 Millisievert beruht auf einer Empfehlung der internationalen Strahlenschutzkommission ICRP. Und diese habe eine «makabre Berechnung» angestellt, so Walter: «Mit diesem Wert nehmen die Behörden in Kauf, dass die Strahlung bei 4 von 100 Arbeitern Krebs auslöst.» Aktuelle Studien liessen vermuten, sagt der Arzt, dass noch mehr Menschen krank würden.
Das Bundesamt für Gesundheit bestätigt diese Berechnungen. Sie gälten aber nur, falls jemand während 40 Jahren immer das Maximum an erlaubter Strahlung abbekommen würde. Die Dosen bei AKW-Angestellten seien «wesentlich tiefer». Dennoch sei «nicht auszuschliessen, dass die Zahl der Krebsfälle höher sein könnte», heisst es weiter. Das Risiko werde, gestützt auf Studien, «laufend neu beurteilt und berechnet». Das Bundesamt räumt ein: «Auch unterhalb der Grenzwerte besteht ein Krebsrisiko.»
Firmen leihen über 3000 Arbeiter an die AKW aus
Viele der verstrahlten Angestellten sind sogenannte Leiharbeiter. Sie machen rund zwei Drittel der 5200 Personen aus, die letztes Jahr in den vier Schweizer AKW jobbten. Sie arbeiten für andere Firmen, die sie meist vorübergehend ins AKW schicken. So wie Taucher Dominique Wüest. Doch ihre Arbeit bleibt weitgehend im Dunkeln.
Keines der vier Werke wollte dem Gesundheitstipp sagen, welche Firmen man beauftragt. Das AKW Leibstadt beruft sich auf «Datenschutz», andere verweisen auf das öffentliche Branchenregister der Nuklearindustrie. Das Register umfasst gut hundert Firmen. Auch diese geben sich zugeknöpft. Von zehn Unternehmen, die der Gesundheitstipp anfragte, wollten neun keine Auskunft geben.
Nur gerade Hatt-Montagen in Habsburg AG war bereit, mit dem Gesundheitstipp zu sprechen. Geschäftsführer Rolf Hatt: Seit über 20 Jahren führe man in den Schweizer AKW Schweissarbeiten durch, etwa an Rohren, die Dampf vom Reaktor zu den Turbinen führten. Letztes Jahr habe man 13 Mitarbeiter in Leibstadt und Mühleberg eingesetzt. Hatt: «Die höchsten Strahlendosen, die unsere Angestellten abbekommen, liegen so um ein Millisievert herum.»
Anders als in der Schweiz sind AKW-Leiharbeiter in Frankreich an die Öffentlichkeit getreten. Sie erzählen ihre Schicksale und fordern bessere Arbeitsbedingungen. 30 000 «Nuklear-Nomaden» gibt es laut Schätzungen.
Einer der Wortführer ist Philippe Billard. Der 45-Jährige sagt dem Gesundheitstipp, er habe in seinen 21 Berufsjahren fast alle französischen AKW von innen gesehen. Und stets die schmutzigsten und gefährlichsten Jobs gemacht. Oft musste Billard als Erster einen Raum betreten und besonders stark strahlende Teile der Anlage mit einer Bleimatte abdecken, damit nachfolgende Arbeiter weniger verstrahlt wurden. Oder er wurde als «Jumper» eingesetzt: Diese Arbeiter klettern in die radioaktiven Teile der Anlage, erledigen rasch eine Aufgabe und hasten wieder hinaus. Das Ganze darf nur wenige Minuten dauern, sonst ist die Strahlenbelastung zu hoch.
«Mehrere Kollegen leiden nun an Krebs»
Billard musste etwa in leeren Wasserbecken den radioaktiven Staub wegputzen: «In zehn Minuten kommt man rasch auf vier, fünf Millisievert» – das ist ein Viertel der erlaubten Jahresdosis. In seinem Berufsleben habe er total 250 Millisievert abbekommen – und das für einen Monatslohn von rund 1500 Euro.
Mehr und mehr Kollegen bekämen Krebs, so Billard. «Bei einem Freund haben die Ärzte grosse Schäden im Erbgut festgestellt – und bei seinen Kindern auch.» Nun will Billard ebenfalls feststellen lassen, ob der Job ihm oder seinen Kindern geschadet hat.
Leiharbeiter Billard kommt auch im Dokumentarfilm «R.A.S. nucléaire» vor. 2009 sprach Filmemacher Alain de Halleux mit französischen AKW-Arbeitern. Schonungslos zeigt er deren Situation auf. Etwa die des Tauchers Pierre Lambert. 1988 mit radioaktivem Kobalt verseucht, bekam er 15 Jahre später Leukämie. Für Billard ist klar: «Wir sind die nächsten Asbest-Opfer.» Auch bei ihnen sind Krebsfälle erst nach Jahrzehnten aufgetreten.
Dem Taucher Dominique Wüest geht es heute gut. «Das ist ja das Verrückte. Ich habe nie etwas gespürt. Die Hand war nicht einmal gerötet.» Die Ärzte sagen, es sei alles in Ordnung – im Moment. «Aber wie es in zwei oder in zehn Jahren aussieht, das kann niemand sagen.»
Wegen der zu hohen Strahlendosis im Sommer 2010 durfte er dieses Jahr nicht nach Leibstadt. Nächstes Jahr möchte Wüest den Job wieder machen. Die Technik des AKW fasziniere ihn einfach – «trotz allem, was passiert ist».