«Übermässige Dankbarkeit wäre fehl am Platz»
Inhalt
Gesundheitstipp 1/2000
01.01.2000
Ingrid (50) und Jacques Klaus (56) haben eine gemeinsame Leber
Ingrid Klaus spendete ihrem Mann Jacques mehr als die Hälfte ihrer Leber. Dadurch rettete sie ihm das Leben. Das war das erste Mal, dass sich Ärzte in der Schweiz an diese aufwendige Operation heranwagten.
Jacques: Diese Operation ist selten, weltweit ist sie sicher noch keine zwei Dutzend Mal ausgeführt worden.
Ingrid: Das Risiko ist eben zu gross, einem lebenden Menschen den ganzen re...
Ingrid (50) und Jacques Klaus (56) haben eine gemeinsame Leber
Ingrid Klaus spendete ihrem Mann Jacques mehr als die Hälfte ihrer Leber. Dadurch rettete sie ihm das Leben. Das war das erste Mal, dass sich Ärzte in der Schweiz an diese aufwendige Operation heranwagten.
Jacques: Diese Operation ist selten, weltweit ist sie sicher noch keine zwei Dutzend Mal ausgeführt worden.
Ingrid: Das Risiko ist eben zu gross, einem lebenden Menschen den ganzen rechten Teil der Leber herauszunehmen.
Jacques: Ja, aber auf Organe von gestorbenen Menschen kann man ewig warten.
Ingrid: Bei dir war es ja fast zu spät.
Jacques: Ja. Als man mir vor 25 Jahren in Afrika einen geplatzten Blinddarm operierte, nahmen sie wahrscheinlich verunreinigte Nadeln. Jedenfalls fing ich mir eine Hepatitis C ein. Lange spürte ich nichts davon. Ich war vielleicht ab und zu extrem müde, aber mein Körper gewöhnte sich daran. Auch an die Zirrhose, die entstand. Im September 1998 entdeckten die Ärzte aber einen bösartigen Tumor in der Leber. Er war zwar erst einen Zentimeter gross, aber jetzt wurde das Ganze dringend. Man gab mir noch sechs Monate zu leben.
Ingrid: Ich war schockiert. Das war das allerletzte, was ich erwartet hatte. Das Kantonsspital Basel verwies dich sofort ans Universitätsspital Genf, eines der sechs Transplantationszentren der Schweiz.
Jacques: Dort wurde ich auf die Warteliste für Organspenden gesetzt. Auf Platz 12. Aber weisst du, mich hat die Diagnose nicht überrascht. Ich spürte, dass da was war. Ich überlegte ganz kühl: Ich habe noch sechs Monate, bevor die Geschwulst in alle anderen Organe wandert. Was kann ich da tun? Vor dem Tod fürchtete ich mich nicht, aber so einfach wollte ich nicht vom Fenster wegtreten.
Ingrid: Du hast nicht einfach gewartet, sondern Infos gesammelt.
Jacques: Genau. Ich schaute im Internet, was in amerikanischen Krebszentren vor sich ging. Da fand ich einen Bericht über eine Tochter, die ihrer Mutter einen Teil ihrer Leber spendete. Bemerkenswert.
Ingrid: Ich erhielt zur gleichen Zeit meinen Blutgruppen-Ausweis. Meine Blutgruppe stimmte mit deiner überein. Wieso sollte ich dir nicht einen Teil meiner Leber geben können?
Jacques: Genau. Deshalb schrieb ich dem zuständigen Professor am Unispital: «Können Sie das auch?»
Ingrid: Er schrieb zurück: «Ich kann es und kann es doch nicht.»
Jacques: Ich schrieb zurück: «Wann können Sie es?» Er meinte: «In drei Monaten. Wir brauchen die Zeit, um zu üben.» Im Unterschied zu einer ganzen Leber eines Toten muss man bei einer Teil-lebend-Transplantation ja alle Anschlüsse neu schaffen.
Ingrid: Das war im Januar 1999. Auf der Warteliste bist du kaum vorwärts gekommen. Ich hatte ein schlechtes Gefühl. Die Zeit lief uns davon. Täglich bestand das Risiko, dass sich der Krebs in deinem Körper explosionsartig ausbreitet.
Jacques: Stimmt. Aber die Ärzte hatten Bedenken. Wieso soll ein gesunder Mensch unters Messer und riskieren, dass er stirbt oder behindert wird? Wir diskutierten stundenlang mit dem Ärzteteam. Sie wollten sicher sein, dass niemand auf dich Druck ausübt. Mir wurde es immer mulmiger. Welches Recht habe ich, in das Leben meiner Frau einzugreifen? Wie hätte ich bei deinem Tod je deinem Sohn aus erster Ehe in die Augen blicken können?
Ingrid: Ich machte Druck. Ich fand, wir hätten keine Zeit mehr. Mein Sohn stand hinter dem Entscheid. Er meinte, wenn er unsere Harmonie sehe, dann sei mein Entscheid sicher richtig. Zudem hatte ich totales Vertrauen ins Ärzteteam. Mein Risiko zu sterben war nur zwei bis vier Prozent.
Jacques: Geschehen kann immer etwas. Eine Mutter, die ihrem Kind einen kleinen Teil ihrer Leber spenden wollte, ist während der Operation an einer Lungenembolie gestorben. Ich war so weit und wollte das Ganze wieder abblasen.
Ingrid: Ich nicht. Ich fand die Operation das einzig Richtige. Ich liess mich testen. Der Bescheid war äussert günstig für uns.
Jacques: Ja. Jeder Mensch braucht eine Leber, die mindestens ein Prozent des Körpergewichtes ausmacht. Ich konnte 705 Gramm von deiner Leber für meine 70 Kilo erhalten und du hattest immer noch 520 Gramm für deine 50 Kilo Gewicht. Besser hätte es nicht sein können.
Ingrid: Eben. Als ich aber am Abend vor der Operation unterschreiben musste, dass ich das Risiko einer missglückten Operation selber trage, wurde mir doch etwas bange. Die Ärzte drängten mich nicht. Sie meinten, ich könne morgen unterschreiben. Da erklärte ich kurz und bündig: «Nein, das machen wir jetzt.»
Jacques: Deine Operation dauerte neun Stunden, man entfernte dir den rechten Leberflügel und setzte ihn mir ein, nachdem sie meine Leber herausgenommen hatten. An über 100 Stellen waren bereits Zellveränderungen im Gang. Meine Operation dauerte 22 Stunden, da eben alle Anschlüsse neu kreiert werden mussten.
Ingrid: Bloss drei Wochen brauchten die Leberflügel bei uns, bis sie regeneriert waren. Ich hatte kaum Schmerzen, durch die Leber verlaufen ja praktisch keine Nerven. Nur müde war ich. Jetzt habe ich wie du eine riesige Narbe quer über den ganzen Bauch. Das erste, was ich nach der Operation dachte, war: «Ich bin naiv gewesen.» Es war gefährlich. Ich atmete nach der Operation nicht mehr von alleine. Ohne künstliche Beatmung wäre ich jetzt tot.
Jacques: Ich dachte als Erstes, wie geht es wohl dir. Die Ärzte beruhigten mich. Sie waren fantastisch. Ich fühlte mich wie in einer grossen Familie, sie haben sehr stark Anteil an uns genommen.
Ingrid: Du hast sie auch mit Fragen «gelöchert».
Jacques: Sicher. Ich sagte zu Beginn ganz offen: Ich möchte eine Zweit-, vielleicht sogar eine Drittmeinung hören. Danach schickte ich mein Dossier einem Spezialisten in Berlin. Er fand eine Transplantation ebenfalls unbedingt nötig. Da ich aus dem Internet die Erfolgsraten in amerikanischen Krebszentren kannte, fragte ich Professor Morel nach seiner Erfolgsrate bei Transplantationen. Wäre sie zu schlecht gewesen, hätte ich mich in den USA operieren lassen.
Ingrid: Dort ist der Eingriff ebenfalls selten, da viel übereinstimmen muss.
Jacques: Sicher. Ich finde aber, Patienten sollten sich informieren und Verantwortung übernehmen. Ich bin ein kritischer Mensch, aber die Ärzte in Genf hatten das gern. Im Übrigen war es auch für sie die erste derartige Operation.
Ingrid: Die Operation kommt mir noch heute jeden Tag in den Sinn. Oft werde ich gefragt, ob ich sie bereue. Ich bin zwar immer noch etwas müde, kann keinen Sport betreiben, aber bereuen, nein, ich bereue es keineswegs.
Jacques: Ich würde heute ohne dich nicht mehr leben. Ich grüble immer daran herum. Ein Chirurg sagte mir, ich solle damit aufhören und es als Geschenk meiner Frau annehmen.
Ingrid: Wer dem Partner einen Teil eines Organs spendet, muss eine gute Beziehung zu ihm haben. Eine übermässige Dankbarkeit wäre völlig fehl am Platz. Wir haben zum Glück eine gute Beziehung. Seit der Operation hat sie sich auch gewandelt. Wir sind mehr zu Hause.
Jacques: Ja, wir gehen nicht mehr an jeden Anlass, sondern fragen: Was tut uns gut, was nicht? Wir machen weniger Kompromisse. Andererseits realisieren wir, wie viele gute Freunde uns unterstützen. Das hätte ich nicht erwartet.
Ingrid: Einzig meine buddhistische Mutter hat etwas gezweifelt. Aber letztlich sind das Entscheide, die man selber treffen muss.
Jacques: Meine Hepatitis C ist natürlich noch nicht verschwunden. Sie greift bereits jetzt wieder die Leber an. Die erste Leber hat 27 Jahre widerstanden; ich hoffe, die zweite hält ebenfalls so lange. Ausserdem hoffe ich, mit neuen Medikamenten auch der Hepatitis C den Garaus machen zu können.
Aufgezeichnet: Isabelle Meier
Teil-Transplantation der Leber kommt
- An den sechs schweizerischen Transplantationszentren (St. Gallen, Zürich, Bern, Basel, Lausanne und Genf) wird normalerweise die Leber von verstorbenen Personen transplantiert. Allerdings sind zu wenig Organspender vorhanden.
- Teil-Leber-Transplantationen von gesunden Menschen wollen Ärzte künftig nicht nur in Genf, sondern auch in Zürich durchführen.
- Das grösste Problem ist, dass das Körpergewicht der Transplantierten passt. Die Betroffenen müssen lebenslang Medikamente schlucken, die das Abstossen des fremden Organs verhindern.
- Die Leber ist das grösste und wichtigste Stoffwechselorgan. Sie kann bis zu zwei Kilogramm wiegen. An bösartigem Leberkrebs erkranken in der Schweiz jährlich 450 Personen, meistens nach 65.