Rahel Amrein (Name geändert) ist im sechsten Monat schwanger. Sie möchte, dass ihr Kind gesund zur Welt kommt. Dennoch verzichtet sie auf einen Marathon von Ultraschalls und Risikoprognosen, den viele Schwangere über sich ergehen lassen. Bisher war die 31-Jährige drei Mal zur Kontrolle bei der Frauenärztin. Auf Tests, die anzeigen, ob ihr Kind behindert ist, verzichtet Rahel Amrein bewusst. «Für mich ist klar, dass ich mein Kind sowieso behalten will.»
Verbindliche Richtlinien dazu, was schwangere Frauen untersuchen lassen sollen, gibt es in der Schweiz nicht. Jeder Arzt entscheidet selber, welche Tests er macht. Das führt zu Unmengen an Vorsorgetests: Viele Ärzte bieten Schwangere jeden Monat auf, um Gewicht, Blutdruck und Urin zu untersuchen, die Herztöne des Kindes zu messen oder um zu testen, ob das Kind behindert ist.
In Deutschland sorgte kürzlich eine Studie der Bertelsmann-Stiftung für Aufsehen: Eine Befragung von über 1200 Müttern ergab, dass Ärzte im Durchschnitt während einer normalen Schwangerschaft über 100 Tests machen. Für die Schweiz gibt es keine solchen Zahlen. Lilian Saemann, Frauenärztin aus Solothurn, vermutet aber, dass es sich hier ähnlich verhält: «Viele Frauenärztinnen und -ärzte führen unnötige Tests durch – auch bei normal verlaufenden Schwangerschaften.»
Ein Blick auf das Angebot von Schweizer Frauenärzten im Internet bestätigt die Vermutung. Frauenarzt Markus Redlich aus Basel etwa schreibt, aus Gründen der Sicherheit führe er bei jeder Kontrolle einen kurzen Ultraschalluntersuch durch. Und Bodo Grahlke, Frauenarzt in Adliswil ZH, macht mindestens fünf Ultraschalls bis zur Geburt. Mit den Ultraschalls testen Ärzte zum Beispiel, ob die Mutter mehrere Kinder bekommt, ob das Kind behindert ist, ob seine Organe in Ordnung sind und ob es gut wächst.
Gesundheitstipp-Frauenärztin Regina Widmer aus Solothurn kritisiert: «Es ist unnötig, bei einer problemlosen Schwangerschaft jedes Mal mit dem Ultraschall zu schauen, ob alles in Ordnung ist.»
Umstritten ist auch der Ersttrimester-Test, den Ärzte in der Regel in der 11. bis 14. Schwangerschaftswoche durchführen. Damit berechnen sie, ob ein Kind möglicherweise Trisomie 21 oder eine andere Abweichung der Chromosomen hat. Dazu macht man einen Ultraschall und einen Bluttest. Der Ultraschall misst die Nackenfalte und der Bluttest das Eiweiss und das Schwangerschaftshormon. Zusammen mit dem Alter der Frau errechnet ein Computerprogramm das Risiko für eine Behinderung. Im Vorsorgeprogramm auf der Website von Arzt Bodo Grahlke ist er in der 12. bis 14. Schwangerschaftswoche ausdrücklich aufgelistet.
Risikotest kann Frauen verunsichern
Franziska Wirz von Appella, der unabhängigen Beratungsstelle für vorgeburtliche Untersuchungen, kritisiert, der Test bringe für Frauen und Paare viel Stress: «Wenn der Test errechnet, dass ein Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,1 Prozent behindert ist, spricht man bereits von einem erhöhten Risiko.» Das verunsichere die Frauen.
Wenn ein Paar, so Wirz weiter, das Kind sowieso behalten wolle, habe es keinen Sinn, den Test zu machen. Niemand sei verpflichtet, solche Untersuchungen in Anspruch zu nehmen. Rahel Amrein war sich dessen bewusst. Sie sagt: «Was nützt es mir, wenn mir ein Arzt sagt, mein Kind sei mit einer Wahrscheinlichkeit von zum Beispiel 0,1 Prozent behindert. Das sagt doch nichts aus.»
In einigen Praxen und auch in der Frauenklinik des Kantonsspitals Luzern testet man bei der ersten Kontrolle das Blut der Schwangeren auf Toxoplasmose. Diese Infektion verursachen Parasiten, sie kann zu Fehlbildungen beim Fötus führen. Meistens wird sie durch Nahrungsmittel übertragen, etwa durch nicht durchgegartes Fleisch. Aber auch Erde oder Katzenkot können Träger der Parasiten sein.
Die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe räumt ein, dass dieser Test oft falsche Resultate liefere und eine Infektion anzeige, obwohl Kind und Mutter gesund seien. Zudem gebe es keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass eine Behandlung mit Antibiotika nütze. Ärztin Regina Widmer sagt: «Dieser Test ist höchstens dann angebracht, wenn eine Schwangere Katzen hat und grippeähnliche Symptome aufweist.»
Ebenfalls zum Standardprogramm vieler Frauenärzte gehört die Kardiotokografie. Damit misst der Arzt die Herztöne des Kindes und vorzeitige Wehen im letzten Drittel der Schwangerschaft. Auch diese Untersuchung ist gemäss der Frauenärztin Lilian Saemann unnötig: Eine solche Methode brauche es nur, wenn das Kind zu spät auf die Welt komme, sagt sie. Wissenschafter der Universität Hannover kamen vor drei Jahren in einer Übersichtsstudie zum Schluss, dass diese Untersuchung keinen Nutzen habe, da sie weder Hirnschäden noch Todesfälle bei Babys verhindern könne.
«Hebamme kann Schwangere begleiten»
Dass es auch anders geht, zeigt das Geburtshaus Delphys in Zürich. Es verzichtet auf zahlreiche Tests, die bei Frauenärzten zum Standardprogramm gehören (siehe PDF). Delphys-Hebamme Andrea Fenzl sagt: «Vorausgesetzt, mit dem Kind und der Mutter ist alles in Ordnung, akzeptieren wir, wenn ein Paar keinen Ultraschall wünscht.» Erst wenn die Hebammen feststellen, dass das Kind nicht genügend wächst oder es sich vor dem errechneten Termin nicht in die Kopflage gedreht hat, empfehlen sie einen Ultraschall.
Viele Frauen kommen allerdings erst zwischen der 28. und 36. Woche ins Geburtshaus. Dann hätten sie bereits zahlreiche Ultraschalls und Tests beim Arzt hinter sich, sagt Fenzl. «Leider wissen viele Frauen nicht, dass sie sich in der gesamten Schwangerschaft von einer Hebamme begleiten lassen können.»
Der Basler Frauenarzt Markus Redlich sagt zur Kritik: Bei jeder Kontrolle müsse man die Herztöne kontrollieren. Das sei «gemäss Tarif ein Bestandteil der Position Schwangerschaftskontrolle». Am einfachsten gehe das mit einem Ultraschallgerät. Die Patientin könne so auch gleich das Kind anschauen. Und: Wenn er mehr als zwei Ultraschalls mache, verrechne er diese nicht.
Das Luzerner Kantonsspital betrachtet es als wichtig, den Toxoplasmose-Test «nach entsprechender Aufklärung in der Frühschwangerschaft anbieten zu können». Er vermindere unter anderem die Unsicherheit der Eltern.