"Schuhe mit Schnürsenkeln sind nichts für mich" - Danica Gehr, 22: Leben mit missgebildeten Händen
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Gesundheitstipp 4/2006
12.04.2006
Für meine Mutter war es ein Schock: Als ich auf die Welt kam, hatte ich an jeder Hand nur vier Finger: Beide Daumen fehlten. Zudem war der eine Arm ganz nach hinten verdreht, der andere ganz nach vorn. Meine Arme sind auch zu kurz, weil mir einer der Unterarmknochen fehlt. Meine rechte Hand ist noch heute steif. Den Grund für meine Missbildungen kennen wir nicht. Möglicherweise waren die Antibiotika schuld, die meine Mutter während der Schwangerschaft nehmen musste.
Heute sind...
Für meine Mutter war es ein Schock: Als ich auf die Welt kam, hatte ich an jeder Hand nur vier Finger: Beide Daumen fehlten. Zudem war der eine Arm ganz nach hinten verdreht, der andere ganz nach vorn. Meine Arme sind auch zu kurz, weil mir einer der Unterarmknochen fehlt. Meine rechte Hand ist noch heute steif. Den Grund für meine Missbildungen kennen wir nicht. Möglicherweise waren die Antibiotika schuld, die meine Mutter während der Schwangerschaft nehmen musste.
Heute sind meine Hände und Unterarme ganz vernarbt. Ich wurde fast dreissig Mal operiert. Dabei versuchten die Ärzte, die verkrümmten Handgelenke, die missgebildeten Finger und Unterarme so zu formen, dass sie funktionstüchtig werden. Dazu haben sie mir Sehnen vom Fuss in die Hand verpflanzt und die Finger umgeformt. Meine ursprünglichen Zeigefinger brauche ich jetzt als Daumen. Bei der letzten Operation setzten sie mir ein Stück Hüftknochen ins Handgelenk ein. Das soll meine Knochenmasse verdichten, denn ich habe bereits eine leichte Arthrose.
Im Alltag komme ich gut zurecht. Manchmal helfe ich mir auch mit Beinen und Füssen weiter, in der Not sogar mit den Zähnen. Zum Beispiel wenn ich den Zapfen aus einer Flasche ziehe.
Doch manchmal brauche ich Hilfe. Ich kann die Haare nicht selber kämmen. Auch das Essen kann ich nicht zerschneiden, weil ich zu wenig Kraft in den Händen habe. Wenn ich Kleider kaufe, muss ich darauf achten, dass der Reissverschluss vorne ist. Knöpfe und Schuhe mit Schnürsenkeln sind nichts für mich.
Meine Behinderung war nie ein Problem für mich. Ich kenne ja nichts anderes und habe gelernt, mich mit meinem Körper und den Schmerzen zu arrangieren. Ich bin eine Kämpferin und wollte immer dieselben Dinge machen wie die anderen. Ich wollte sein wie sie. Meistens hat das auch geklappt. Aber es gab auch Rückschläge: Im Kindergarten durfte ich einige Handarbeiten nicht machen, weil ich zu langsam war. Und in der Schule konnte ich beim Diktat mit dem Tempo nicht mithalten.
Die Kinder in der Primarschule waren unkompliziert. Wir spielten Fussball und beim Schlittschuhlaufen nahmen sie mich in die Mitte. Wenn sie etwas verunsicherte oder sie etwas wissen wollten, fragten sie einfach und ich gab Antwort. Damit war die Sache erledigt. Das wünsche ich mir manchmal auch bei Erwachsenen. Manche starren mich lange an. Das ist mir unangenehm. Sie könnten mich ja auch fragen, was mit meinen Händen ist.
In der Sekundarschule wurde es dann schwieriger, Kolleginnen zu finden - und einen Freund. Eine Psychologin half mir bei der Frage «Wie gehe ich auf einen Mann zu?». Es gab Männer, die mit meiner Behinderung nicht zurechtkamen und mir das auch direkt sagten. Seit zwei Jahren habe ich jetzt einen Freund. Im Sommer ziehen wir zusammen.
Ich hatte stets ein gutes Umfeld und glaube, das hat mich auch stark gemacht. Mein Leben ist gut, so wie es ist. Nächsten Monat schliesse ich meine KV-Lehre ab, die ich vor drei Jahren bei der Pro Infirmis angefangen habe. Eine weitere Operation steht für mich zurzeit nicht zur Diskussion. Auch Prothesen sind kein Thema. Meine Hände gehören zu mir, so wie sie sind.
Aufgezeichnet: Evi Biedermann
Missgebildete Glieder: Medikamente können die Ursache sein
Missbildungen von Armen, Beinen, Händen und Füssen nennt man Dysmelie. Es können eine oder auch mehrere Gliedmassen gleichzeitig betroffen sein. In Deutschland schätzt man, dass eines von 6000 Neugeborenen mit solchen Missbildungen zur Welt kommt. Die Zahlen in der Schweiz sind vermutlich ähnlich. Eine Häufung von extremen Missbildungen gab es in den 50er- und 60er-Jahren durch das Medikament Contergan.
Die Gliedmassen entwickeln sich beim Fötus in den ersten drei bis sechs Wochen. Durch den Einfluss von Gift, Medikamenten, Strahlung, Infektionen, Sauerstoffmangel oder Ernährungsstörungen kann es dabei zu Missbildungen kommen.
Die Betroffenen stellen sich von Anfang an auf ein Leben mit verstümmelten Gliedmassen ein - sie kennen nichts anderes. Sie entwickeln sich in der Regel wie andere Kinder. Operationen können hilfreich sein, später auch Prothesen.
Weitere Infos:
- www.dysmelie-info.de
- Selbsthilfegruppe Pinocchio, www.pinocchio.ch, Daniela Fuchs, Etzelstrasse 60, 8834 Schindellegi, Tel. 044 784 32 60