Schleudertrauma - Unfallopfer besser behandeln
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Gesundheitstipp 2/2001
01.02.2001
Unerkannte Hirnverletzungen führen häufig zu chronischen Schmerzen
Patienten mit chronischem Schleudertrauma müssen viele Jahre lang mit Schmerzen leben - und oft auch mit dem Verdacht, sie seien Simulanten. Eine neue These: Ambulanzen und Hausärzte behandeln oft falsch.
Claudia Peter cpeter@pulstipp.ch
Mirjam Schätti beugt sich auf dem Beifahrersitz vor und kramt in ihrer Einkaufstasche. Das ist ihr Verhängnis. Denn in diesem Moment biegt eine ...
Unerkannte Hirnverletzungen führen häufig zu chronischen Schmerzen
Patienten mit chronischem Schleudertrauma müssen viele Jahre lang mit Schmerzen leben - und oft auch mit dem Verdacht, sie seien Simulanten. Eine neue These: Ambulanzen und Hausärzte behandeln oft falsch.
Claudia Peter cpeter@pulstipp.ch
Mirjam Schätti beugt sich auf dem Beifahrersitz vor und kramt in ihrer Einkaufstasche. Das ist ihr Verhängnis. Denn in diesem Moment biegt eine Autofahrerin in die Zürcher Seestrasse ein und prallt frontal in ihren Wagen. Am Steuer sitzt Mirjams Lebensgefährte. Er hat keine Chance auszuweichen. Der Aufprall schleudert die junge Buchhalterin auf den Sitz zurück. Die Ambulanz stellt schwere Prellungen fest. Dennoch geht Mirjam am Montag darauf wieder arbeiten. Doch wenige Tage später beginnen die Kopfschmerzen.
«Zuerst hatte ich tausend andere Erklärungen», erinnert sich Mirjam. «Stress, Grippe, Abgespanntheit. Nie habe ich die Kopfschmerzen mit dem Unfall in Verbindung gebracht.» Erst neun Monate nach dem Unfall geht sie zu einem Chiropraktor. «Der hat mir auf den Kopf zugesagt: Schleudertrauma.»
Mirjams Versicherung lädt sie vor. An das «Verhör» erinnert sich die junge Frau mit Schrecken. Ob sie auch Kopfschmerzen habe, wenn sie nicht arbeite, habe man sie gefragt. Und weshalb sie trotz der Schmerzen so fröhlich sei. «Die wollten mich als Simulantin abstempeln», ist Mirjam Schätti sicher. «Dabei habe ich wegen meines Schleudertraumas noch keinen Tag bei der Arbeit gefehlt.»
Mirjam bewältigt den Alltag mit Schmerztabletten. «Es gibt Punkte in meinem Nacken, die darf ich nicht berühren», erzählt sie. Sonst zieht sich sofort ein starker Schmerz von dort über den Hinterkopf in die Augengegend. Dann hilft nur noch Bettruhe - oder der Griff zur Tablette.
Schnelle Diagnose kann entscheidend sein
Eine Eisplatte änderte Sibyll Gallatis Leben mit einem Schlag. Mit 40 km/h fuhr die Zahnarzthelferin im Winter den Berg hinunter. Dennoch geriet ihr Wagen beim Bremsen ins Schleudern und prallte gegen einen Betonpfeiler. «Den Knall habe ich noch gehört», erinnert sich die heute 22-Jährige. Doch wie sie aus dem total zerstörten Auto herauskam, weiss sie nicht mehr.
Bereits in der Nacht konnte sie den Kopf beim Liegen nicht mehr heben. Tags darauf ist ihr Arzt sicher: Schleudertrauma. Seitdem bestimmt der Schmerz ihr Leben. Jeden Tag nimmt sie Tabletten. «Sonst könnte ich überhaupt nicht mehr arbeiten.» Trotzdem musste sie ihr Pensum auf 80 Prozent reduzieren. Den Lohnausfall übernimmt Gallatis Versicherung - problemlos. «Einmal war jemand von der Versicherung bei mir und hat ein paar Fragen gestellt», erinnert sie sich. Doch von Simulantentum war nie die Rede.
Zwei Frauen, eine Diagnose. Doch Sibyll glaubt man, Mirjam nicht. Der Unterschied? In Sibylls Nacken haben sich zwei Wirbel verschoben. Die Ursache der Schmerzen ist eindeutig erkennbar. Auf Mirjams Röntgenbild sieht man dagegen nichts. Doch deswegen ist sie noch lange keine Simulantin. «Bei vielen Schleudertrauma-Patienten sind die Verletzungen nicht sichtbar, auch nicht mit modernsten Untersuchungsmethoden», sagt Thierry Ettlin, Chefarzt im Rehaspital Rheinfelden AG.
Ettlin befasst sich seit 15 Jahren mit dem chronischen Schleudertrauma. Viele Patienten wenden sich an ihn, wenn sie nach Jahren voller Schmerzen nicht mehr aus noch ein wissen. Doch dann ist es oft zu spät. «Schon vier bis sechs Wochen nach der Verletzung wird Schleudertrauma chronisch, wenn es nicht richtig behandelt wird», warnt Ettlin. «Nicht erst nach sechs Monaten, wie viele glauben.» Die Patienten geraten dann in ein Wechselbad von Schmerz und Verzweiflung über den Schmerz. «Wenn ich sie nach Jahren sehe, zeigen sie dann häufig Symptome von Depressionen», sagt Ettlin.
«Und die Versicherung sagt dann, die Krankheit sei psychisch, nicht körperlich.» Die Folge: keine Entschädigung. Die Patienten werden als psychisch krank oder schlimmer noch als Simulanten abgestempelt.
Der Ausweg aus diesem Teufelskreis liegt für Ettlin bei den Unfallstationen und Hausärzten. Sie müssten so früh wie möglich genau nach dem Unfallhergang fragen. «Ein noch so kleiner Aufprall des Kopfes, eine noch so kurze Bewusstlosigkeit können Hinweise auf eine Hirnerschütterung mit Schleudertrauma sein», erklärt er. Oft, so ist seine Erfahrung, werden diese Hirnerschütterungen jedoch übersehen.
Schleudertrauma auch bei Frontalkollisionen
Mirjam Schätti kann das bestätigen. Sie meldete sich nach dem Unfall in einem nahe gelegenen Regionalspital. «Dort fragten die Ärzte nur, ob das andere Auto von vorne oder von hinten auf unseres geprallt sei.» Als Schätti sagte, es sei ein Frontalzusammenstoss gewesen, hätten sie gesagt: «Oh, gut, dann kommt ein Schleudertrauma nicht in Frage.»
Das ist ein grundlegender Irrtum. Mehrere Untersuchungen haben in den letzten Jahrzehnten nachgewiesen, dass Schleudertraumata eine häufige Folge von Frontalkollisionen sind. Das bestätigt auch der Zürcher Patientenanwalt Hans Schmidt. Er hat schon über 700 Schleudertrauma-Opfer vertreten. «Bei einer Kollision kann der Kopf ausserdem auch an die Seitenscheibe oder nach hinten gegen die Nackenstütze prallen», erklärt er. «Bei älteren Autos sind die Nackenstützen oft ziemlich hart. Wenn der Kopf dagegen geschleudert wird, ist eine zusätzliche Hirnverletzung sehr leicht möglich.»
Zustimmung für Ettlins Thesen kommt auch vom Berner Neurologen Lukas Fierz. Er schätzt, dass bei etwa einem Drittel der Patienten, die nach einem Schleudertrauma dauerhaft arbeitsunfähig bleiben, eine Hirnverletzung übersehen worden sei. Ettlin selbst kommt auf noch höhere Zahlen. Allein 1998 fand er bei fast achtzig Prozent seiner Patienten eine zusätzliche Hirnverletzung. «Drei Viertel dieser Verletzungen hatten andere Ärzte komplett übersehen», sagt er. Simulanten hat auch Thierry Ettlin schon erlebt. Doch nach seinen Erfahrungen sind sie leicht zu entlarven. Bei diesen Patienten gebe es immer verräterische Widersprüche zwischen ihren Erzählungen und den konkreten Untersuchungsergebnissen. «Es ist unglaublich schwierig, eine solche Verletzung über Monate und Jahre hinweg zu simulieren.»
Ettlins Theorie überzeugte auch die Schweizerische Unfallversicherung (Suva). Mehrere Suva-Experten beteiligten sich an einer Arbeitsgruppe, die unter seiner Leitung Empfehlungen für Diagnose und Therapie eines Schleudertraumas unmittelbar nach dem Unfall entwickelte. Ziel: Die Not- und Hausärzte sollen ein Schleudertrauma und eine Hirnverletzung früh erkennen und richtig behandeln. Dann wird, so hoffen die Experten, die Zahl chronisch kranker und arbeitsunfähiger Patienten sinken. Erich Baer von der Abteilung Unfallmedizin bei der Suva in Luzern hofft, damit einer grösseren Anzahl von Patienten rechtzeitig helfen zu können.
Die Zeit arbeitet gegen die Unfallopfer
Doch auf aktuelle Streitfälle lassen sich nach Baers Ansicht die Empfehlungen nicht anwenden. Der Grund: Wenn der Fall vor Gericht landet, liegt der Unfall meist lange zurück. Ob die Ärzte eine Hirnverletzung übersehen haben, ist dann schwer nachzuweisen.
So steht auch die Zürcherin Mirjam Schätti womöglich vor einem jahrelangen Kampf mit ihrer Versicherung, der Winterthur. Dabei sollte die Rechtslage eigentlich klar sein. Denn schon 1991 stellte das Bundesgericht fest: «Nach den Ergebnissen der medizinischen Forschung ist bekannt, dass bei einem Schleudertrauma der Halswirbelsäule auch ohne nachweisbare (...) Befunde noch Jahre nach dem Unfall (...) Ausfälle verschiedenster Art auftreten können.»
Doch Schätti erhielt Mitte Januar einen Brief von der Winterthur. Inhalt: Die Versicherung glaubt nicht an ein Schleudertrauma. Grund: Die lange Zeit zwischen Unfall und Diagnose. Die Versicherung hält, wie sie dem Puls-Tipp mitteilte, daran fest, dass die Patienten bei einem Schleudertrauma ihre Beschwerden binnen 24 bis höchstens 72 Stunden melden müssten. So werden auch an diesem Fall zunächst einmal die Rechtsanwälte Geld verdienen.