Prader-Willi-Syndrom - Heisshunger - ein Leben lang
Inhalt
saldo 4/2000
01.03.2000
Zwanghaftes Essen, massives Übergewicht, zeitlebens kindlich - ein genetischer Defekt verursacht eine mehrfache Behinderung.
Jetzt hat man Annina wieder einmal erwischt", stellt Edith Pfister nach dem Anruf eines Lebensmittelgeschäfts resigniert fest. Tochter Annina konnte den verlockenden Süssigkeiten nicht widerstehen und liess einiges mitgehen. "Man kann es mit Beschaffungs-kriminalität vergleichen, sie muss einfach etwas haben, und je mehr sie hat, umso mehr braucht sie." ...
Zwanghaftes Essen, massives Übergewicht, zeitlebens kindlich - ein genetischer Defekt verursacht eine mehrfache Behinderung.
Jetzt hat man Annina wieder einmal erwischt", stellt Edith Pfister nach dem Anruf eines Lebensmittelgeschäfts resigniert fest. Tochter Annina konnte den verlockenden Süssigkeiten nicht widerstehen und liess einiges mitgehen. "Man kann es mit Beschaffungs-kriminalität vergleichen, sie muss einfach etwas haben, und je mehr sie hat, umso mehr braucht sie." Im Haushalt von Pfisters sind Kühlschrank und Vorratskasten mit Schlössern versehen. Nicht, um Annina zu bestrafen, sondern um sie zu schützen.
Die 27-jährige Annina leidet unter dem Prader-Willi-Syndrom (PWS). Dieser genetische Defekt trifft jedes 15 000ste Neugeborene. Ein PWS-Säugling ist erkennbar an Untergewicht, Muskelschwäche und der Unfähigkeit zu trinken. Im Alter von etwa zwei Jahren entwickeln die Kinder eine Esssucht, die ihr ganzes Tun und Denken beherrscht und die sie nie mehr loswerden. Sie kennen kein Sättigungsgefühl, können aber nur 800 bis 1000 kcal pro Tag verbrennen.
Die typischen Merkmale von PWS-Kindern: meistens stark übergewichtig und kleinwüchsig, Muskelschwäche, bewegungsunlustig. Esslust und Bewegungsarmut führen zu massivem Übergewicht, das lebensbedrohlich werden kann.
Annina ist mit 1,57 m eher gross für eine PWS-Betroffene und wiegt dank elterlicher Kontrolle "nur" 77 kg. Seit kurzem gibt es für PWS-Patienten eine Hormontherapie, die das Wachstum normalisiert. Das Gewicht lässt sich aber nur mit ständiger Diät begrenzen.
Viele Störungen im Verhalten gehören zum Krankheitsbild Annina Pfister ist eine junge Frau, geistig und körperlich jedoch auf einer kindlichen Stufe stecken geblieben. PWS-Jugendliche kommen nicht in die Pubertät, da die Hirnanhangdrüse die nötigen Hormone nicht produziert. Annina besuchte die Volksschule und danach eine Haushaltschule. Jetzt arbeitet sie in einer Pension, braucht aber viel Verständnis und Unterstützung. Kommt etwas Unerwartetes auf sie zu, ist sie überfordert und verweigert die Weiterarbeit. Verhaltensstörungen wie extreme Widerspenstigkeit oder unkontrollierte Temperamentsausbrüche gehören zum PWS-Erscheinungsbild.
Was Anninas Eltern am meisten zu schaffen macht: "Sie wird nie selbstständig leben können. Was passiert mit ihr, wenn wir einmal nicht mehr für sie sorgen können?"
Hildegard Bösch-Billing