Seit über 15 Jahren habe ich keinen Alkohol mehr getrunken. Dennoch: Ich bin Alkoholikerin. Würde ich wieder einen Schluck trinken, wäre sofort alles wieder da – die Lügen, die Ausreden, das Verstecken.
Es hat lange gedauert, bis ich mich selber als Alkoholikerin bezeichnen konnte. Ein Alkoholiker war für mich erstens männlich und zweitens der Penner unter der Brücke. Ich hingegen hatte einen Job als Restaurantfachfrau, Geld, Familie und Freunde. Erst seit ich trocken bin, weiss ich, wie fest mich der Alkohol im Griff gehabt hat.
Ich brauchte täglich meinen Pegel, damit ich überhaupt arbeiten konnte. Morgens trank ich Bier, das ich erbrechen musste, da mein Magen rebellierte. Dann Gin oder Martini, damit sich meine zittrigen Hände beruhigten.
Wenn ich mich am Abend mit Kollegen traf, trank ich vorher, damit ich im Ausgang nicht mehr so viel trinken musste. Ich konnte mir nicht eingestehen, dass ich süchtig war. Heute bin ich sicher, dass viele es wussten: Ich verlor beim Sprechen oft den Faden. Zudem war mein Gesicht aufgedunsen und ich litt an kreisrundem Haarausfall.
Als Kind war ich eine Aussenseiterin und habe mich immer minderwertig gefühlt. Ich bin in einer konservativen Familie auf einem Bauernhof aufgewachsen. Mit 17 trank ich bereits täglich. Ich wollte dieses Gefühl von Leichtigkeit und Selbstvertrauen. Dann begann ich eine Hotelfachausbildung, verdiente mein erstes Geld, zog von zu Hause aus. Als ich 20 war, begann das Zittern schon am Morgen.
Mein Leben änderte sich erst sechs Jahre später, als meine Chefin mich eines Tages ins Büro zitierte. Ich hätte ein Alkoholproblem, sagte sie. Und: «Entweder machen Sie einen Entzug oder Sie sind Ihren Job los.» Mit Hilfe meiner Eltern machte ich einen kalten Entzug. Zwei Wochen lang verliess ich das Haus nicht. Ich hatte fürchterliche Angstzustände, schwitzte, zitterte und hatte wahnsinnig Durst. Nach zwei Wochen ging es mir körperlich besser, ich reiste nach Australien. Schon im Flugzeug genehmigte ich mir einen Martini. Es folgten kurze Rückfälle mit Bier oder Wodka.
Später schaffte ich den Ausstieg dann doch. Auf Empfehlung meiner Chefin ging ich zu den Anonymen Alkoholikern. Die regelmässigen Treffen halfen mir. Ich bekam viele positive Rückmeldungen im Betrieb. Erst als ich ein halbes Jahr trocken war, konnte ich mir eingestehen, dass ich Alkoholikerin war. Noch immer besuche ich die Meetings der Anonymen Alkoholiker. Sie helfen mir, nicht in Versuchung zu kommen.
Vor ein paar Jahren habe ich mich umschulen lassen. Jetzt arbeite ich im sozialen Bereich. Ich geniesse die Freiheit ohne Sucht. Es ist schön, überall hingehen zu können und nicht mehr darauf achten zu müssen, ob es Geschäfte mit Alkoholika in der Nähe hat. Heute bin ich der Chef und nicht der Alkohol.
Wenn das Trinken zum Zwang wird
Das Verhalten und nicht die Menge definiert letztlich, ob man alkoholkrank ist oder nicht. Dennoch empfehlen Experten: Frauen sollten nicht mehr als zwei, Männer nicht mehr als drei Drinks am Tag trinken. Ein Drink entspricht 1 Deziliter Wein oder 3 Deziliter Bier. Zudem sollte man immer wieder abstinente Tage einschalten. Von Abhängigkeit sprechen Fachleute, wenn ein Zwang zum Trinken da ist und ohne Drink Entzugserscheinungen auftreten. Alkoholkranke vertragen immer mehr und vernachlässigen ihre Interessen.
Weitere Informationen Anonyme Alkoholiker. Es gibt keine Mitgliederlisten oder Gebühren: Hotline 0848 848 885, www.anonyme-alkoholiker.ch
Auch für Angehörige gibt es Hilfe: Tel. 0848 848 843, www.al-anon.ch