Der Aargauer Hans Moor arbeitete seit Beginn der Lehre 1962 als Maschinenschlosser bei der Maschinenfabrik Oerlikon, heute Alstom. 1978 kam er beim Montieren von Turbinen mit Asbest in Kontakt. Über zwanzig Jahre später, Anfang 2004, erkrankte er.
Die Ärzte stellten einen unheilbaren Brustfellkrebs fest. Ende 2005 starb Moor daran. Seine Witwe und die beiden Töchter verlangten vom Arbeitgeber Schadenersatz in der Höhe von 213 000 Franken.
Das Arbeitsgericht Baden und später das Obergericht des Kantons Aargau lehnten die Klage wegen Verjährung ab, im letzten November auch das Bundesgericht.
Fazit: Die Klage hätte bis spätestens 1988 eingereicht werden müssen – also sechzehn Jahre, bevor Moor an den Folgen des Asbests erkrankte. Für die Witwe Renate Howald Moor ist das Urteil unbegreiflich: «Das ist ein Zynismus, den ich nicht verstehe.»
Wer das kürzlich veröffentlichte Urteil des Bundesgerichts liest, kann den Vorwurf des Zynismus nachvollziehen. Rechtlich unbestritten war, dass die Verjährungsfrist für Forderungen laut Gesetz zehn Jahre beträgt. Streitig war, ab wann diese Verjährungsfrist läuft.
Die Hinterbliebenen argumentierten damit, diese Frist könne erst mit Kenntnis des Schadens – also bei Beginn der Erkrankung – beginnen. Diese Auffassung wird von mehreren namhaften Professoren geteilt.
Holland, Frankreich: Hohe Entschädigungen für die Opfer
Anderer Ansicht war der Arbeitgeber. Er berief sich darauf, dass die Frist im Zeitpunkt der schädigenden Handlung beginne – hier also spätestens im Jahr 1978, als der Verstorbene zuletzt mit Asbest in Kontakt kam. Und seine Forderung sei somit 1988 verjährt.
Auch diese Ansicht kann sich auf einen Teil der juristischen Literatur berufen. Das Bundesgericht schloss sich den Argumenten des Arbeitgebers an. Die zehnjährige Verjährungsfrist laufe «unabhängig davon an, ob der Gläubiger (also hier der Arbeitnehmer) seine Forderung kennt».
Beruhe sie auf einer Körperverletzung, entstehe sie «ab dem Zeitpunkt, in dem der Schuldner (der Arbeitgeber) auf den Leib des andern einwirkt». Das war bei Hans Moor 1978 – weit mehr als zehn Jahre vor seiner Erkrankung.
Wörtlich heisst es im schriftlich begründeten Urteil: «Das öffentliche Interesse an der Rechtssicherheit und am gesellschaftlichen Frieden verlangt, dass gewöhnliche Forderungen, die nicht geltend gemacht werden, nach einer gewissen Zeit nicht mehr durchgesetzt werden können.»
Diese Argumentation verunmöglicht es den Asbest-Opfern, auf Schadenersatz und Schmerzensgeld klagen zu können. Laut Suva dauert es beim für Asbest typischen Brustfellkrebs 20 bis 40 Jahre, bis die Erkrankung auftritt (siehe unten).
Zum Vergleich: In Italien läuft seit 2009 ein Prozess gegen die Verantwortlichen des Schweizer Faserzementherstellers Eternit AG. Auch dieses Unternehmen verwendete in den 70er-Jahren Asbest. Rund 3000 italienische Arbeiter leiden heute unter den Folgen.
Ein italienisches Gericht berät zurzeit über Entschädigungen von mehreren hundert Millionen Franken. Dasselbe in Frankreich und Holland: Auch in diesen Ländern erhielten die Asbest-Opfer insgesamt mehrere hundert Millionen Franken von ihren ehemaligen Arbeitgebern.
Handystrahlung oder Nanopartikel: Ähnliche Spätfolgen möglich
Das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts hat Auswirkungen weit über die Opfer von Berufskrankheiten hinaus. Es hat Folgen für alle Patienten, die aufgrund von sich allmählich auswirkenden schädigenden Stoffen erkranken. Beispiele dazu gibt es immer mehr:
- Bei Krebs oder Hauterkrankungen durch Kontakt mit Blei oder Arsen vergehen im Schnitt 15 bis 30 Jahre bis zum Ausbruch der Krankheit.
- Bei synthetischen Kleinstteilchen, sogenannten Nanopartikeln, ist heute noch völlig ungewiss, wie sie sich im menschlichen Körper auswirken. Es gibt aber Anzeichen, dass der intensive Kontakt mit Nanopartikeln Jahre später ähnliche Auswirkungen hat wie Asbest (siehe unten).
- Dasselbe gilt für die Belastung durch elektromagnetische Strahlen, beispielsweise durch Handy- und Wireless-Netze. Zwischen 2000 und 2004 verglich die Internationale Gesundheitsorganisation WHO den Handygebrauch von 5190 Menschen mit Hirntumor und 7658 Menschen ohne Erkrankung.
Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Tumor und Handy-benützung konnte die Studie zwar nicht nachweisen. Sie gebe aber Hinweise darauf, dass häufiger Handygebrauch über längere Zeit das Krebsrisiko erhöhe (saldo 15/09).
Nach dem Entscheid des Bundesgerichts könnte das Parlament die Lage von spät Erkrankten verbessern: Indem es – wie beispielsweise in letzter Zeit immer wieder bei bestimmten strafrechtlichen Delikten – die Verjährungsfrist verlängern würde.
Der Waadtländer SP-Nationalrat Jean-Claude Rennwald verlangt denn auch in einer Interpellation für Schadenersatzansprüche eine 50-jährige Verjährungsfrist. Renate Howald Moor und ihr Anwalt David Husmann ziehen derweil das Urteil weiter an den Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.
Gesundheit: Asbest und Nanopartikel
Asbest war in den 60er- und 70er-Jahren ein beliebter Baustoff. Doch die Verwendung hat Auswirkungen auf die Gesundheit. Asbestteilchen lagern sich in der Lunge ab und führen zu Lungenkrebs. 1990 verbot der Bund den Stoff. Für viele zu spät: Die Suva rechnet bis 2020 mit rund 10 000 bis 15 000 Asbestopfern in der Schweiz.
Umstritten ist die Auswirkung von synthetischen Kleinstteilchen, sogenannten Nanopartikeln, auf die Gesundheit. Sie fallen bei der Herstellung von Kosmetika, Lacken oder Textilien an. Untersuchungen in China zeigen:
Arbeiter, die oft in Kontakt kommen mit Nanopartikeln, neigen zu Lungenentzündungen. Laut dem Suva-Arbeitsmediziner Marcel Jost zeigen Versuche an Tieren, dass sie ähnliche Auswirkungen haben können wie Asbest.