Die Klägerin, eine Dermatologin mittleren Alters aus dem Freiburgischen, betritt an der Seite ihrer Anwältin den Gerichtssaal. Sie schreitet sehr langsam und aufrecht wie eine Bodenturnerin. Wenn da nicht eine Halsstütze um ihren Nacken wäre.
Zwei Richterinnen und ein Richter am Kreisgericht St.Gallen haben darüber zu entscheiden, ob ihre Klage gegen die Schweizerische Ärzte-Krankenkasse gutgeheissen wird, eine nicht profitorientierte Selbsthilfeorganisation für Ärzte und Pflegepersonal. Die Dermatologin ist bei dieser Kasse versichert und fordert 100 Prozent Invalidentaggeld. Den höchsten Ansatz erhält, wer mindestens zu 66,66 Prozent erwerbsunfähig ist. Diesen Beweis muss die Klägerin erbringen.
Die Anwältin der Klägerin spricht von einer langen Leidensgeschichte
Die Ärztin sei seit dem Jahr 2006 zu 100 Prozent erwerbsunfähig und erhalte von der Krankenkasse trotzdem nur ein Taggeld in der Höhe von 50 Prozent, sagt ihre Anwältin. Die Leidensgeschichte ihrer Mandantin ist lang: 2003 ein stechender Schmerz im Rücken, Eingriffe an der Wirbelsäule, anhaltende, unerträgliche Schmerzen, eine Diskushernie, ab 2007 kommen Gelenkschmerzen in den Hüften und ein Bandscheibenvorfall dazu.
Trotz Behandlung durch die besten Spezialisten im Welschland bestehe keine Aussicht auf Besserung. Sie nehme täglich Morphin, Antidepressiva sowie vier andere Medikamente, was sie müde und vergesslich mache. Von der Invalidenversicherung erhalte die Dermatologin deshalb eine volle IV-Rente.
Die Ärzte-Krankenkasse verlangt ein weiteres medizinisches Gutachten
Umstritten ist, wie viel die Dermatologin trotz der gesundheitlichen Probleme arbeiten könnte. Sie selbst lässt ausführen, sie arbeite nur noch einmal wöchentlich für ein paar Stunden in ihrer Praxis. Jemand, der seinen Beruf liebe, wolle nicht alle Brücken hinter sich abbrechen. Aber dies als Erwerbstätigkeit zu bezeichnen, sei absurd: Im Jahr 2003 habe sie gegen 3000 Konsultationen bewältigt, 2007 waren es gerade noch 17.
Die Anwältin der Schweizerischen Ärzte-Krankenkasse sieht dies ganz anders. Selbstverständlich hätten die Vertrauensärzte der Klägerin eine volle Erwerbsunfähigkeit festgestellt. «Sie ist Teil eines Systems, einer Gruppe von Ärzten, die sie seit Jahren erfolglos behandeln und ihr nun zum maximalen Taggeld verhelfen wollen.»
Zwei von der Kasse befragte Fachgutacher seien zum Schluss gekommen, dass der Beweis für eine derart weit gehende Erwerbsunfähigkeit nicht erbracht sei. Die Anwältin fordert deshalb nun ein weiteres, durch das Gericht einzuholendes Gutachten: «Wäre ich an der Stelle der Klägerin, ich würde es noch so gerne akzeptieren. Ich wäre froh um die Meinung von Ärzten aus einem anderen Gebiet, die einen neuen Blick in die Krankengeschichte werfen.»
Die Anwältin der Ärztekasse bezweifelt auch, dass die Dermatologin fast nichts mehr verdient, und verlangt, dass ein Buchhaltungsexperte Licht in die finanziellen Verhältnisse bringt. Es gebe bis jetzt keine Unterlagen, die bewiesen, dass die Ärztin nicht mehr arbeite. Im Gegenteil: Nach wie vor sei sie auf der Homepage der Dermatologen aufgeführt und habe von deren Berufsverband vor einem Monat einen Preis für ihr berufliches Engagement erhalten. «Viele Tatsachen sprechen dafür, dass sie erwerbsfähig ist», schliesst die Vertreterin der Krankenkasse.
Das Gericht wird in den nächsten Wochen entscheiden, ob weitere Gutachten einzuholen sind.
Ärzte als Richter in Weiss
Wer beim Gericht eine Forderung geltend macht, muss beweisen, dass er das verlangte Geld zugut hat. So der wichtigste Grundsatz des Beweisrechts. Invalidentaggeld und Invalidenrente setzen eine Erwerbsunfähigkeit voraus. Diese liegt dann vor, wenn das Einkommen aus einer Berufstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen ganz oder teilweise wegfällt. Wer gegen eine Versicherung auf die Auszahlung eines Invalidentaggeldes klagt, muss deshalb beweisen, dass sein Einkommen gesunken ist oder ganz wegfiel und dafür gesundheitliche Gründe massgeblich sind.
Der Nachweis der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit kann praktisch nur mit ärztlichen Gutachten erbracht werden. Wer vor Gericht behauptet, invalid zu sein, muss dies mit solchen Expertisen belegen können. Die Versicherungen ihrerseits beauftragen auch wieder Ärzte, um das Gegenteil zu belegen. Deshalb steht in gerichtlichen Streitigkeiten sehr häufig Aussage gegen Aussage, Expertise gegen Expertise.
Das Gericht behilft sich in solchen Situationen häufig mit einer sogenannten Oberexpertise: Es beauftragt einen weiteren Arzt mit einem Gutachten. Schliesslich entscheidet es in der Regel den Streitfall gestützt auf das Ergebnis dieser selbst eingeholten Fachmeinung. Fazit: Geht es um gesundheitliche Probleme, sind es vor allem die Ärzte, die entscheiden.