Alzheimer - Starke Medikamente - schwache Hilfe
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Gesundheitstipp 2/2000
01.02.2000
Kritische Ärzte wehren sich gegen neue Therapie-Richtlinien
Patienten sollen starke Medikamente schlucken, selbst wenn sie nur «wahrscheinlich» Alzheimer haben. Das «Alzheimer Forum Schweiz» will das so. Bei Ärzten regt sich Widerstand: Sie zweifeln am Nutzen der Arzneien.
Das «Alzheimer Forum Schweiz», in dem sich Hausärzte und Vertreter von Krankenkassen und der Pharmaindustrie zusammengeschlossen haben, hat vor knapp einem Jahr Richtlinien erstellt. Sie ...
Kritische Ärzte wehren sich gegen neue Therapie-Richtlinien
Patienten sollen starke Medikamente schlucken, selbst wenn sie nur «wahrscheinlich» Alzheimer haben. Das «Alzheimer Forum Schweiz» will das so. Bei Ärzten regt sich Widerstand: Sie zweifeln am Nutzen der Arzneien.
Das «Alzheimer Forum Schweiz», in dem sich Hausärzte und Vertreter von Krankenkassen und der Pharmaindustrie zusammengeschlossen haben, hat vor knapp einem Jahr Richtlinien erstellt. Sie sollen Ärzten helfen, Alzheimer früh zu erkennen und zweckmässig zu behandeln.
Kernpunkt des Papiers: Wenn ein Patient «wahrscheinlich» Alzheimer habe, sollen Ärzte spezielle Medikamente verschreiben: so genannte Cholinesterase-Hemmer wie Tacrin, Aricept oder Exelon.
Die neuen Richtlinien haben jetzt unter Ärzten eine heftige Kontroverse ausgelöst. «Es wäre interessant zu wissen, welche Pharmafirmen diese Richtlinien mitfinanziert haben», ärgert sich der Bündner Arzt Robert Ganzoni.
Arzt Ganzoni: «Völlig übers Ziel hinausgeschossen»
Er finde es «daneben», dass er gemäss diesen Richtlinien die Medikamente sämtlichen Alzheimer-Patienten verschreiben soll - «lebenslänglich und unabhängig davon, ob sie auf die Medikamente ansprechen oder nicht». Und auch dann, wenn nur ein Verdacht auf Alzheimer bestehe. Dies sei «völlig übers Ziel hinausgeschossen» und höchstens gerechtfertigt, wenn die Medikamente den Patienten wirklich helfen. «Dafür fehlen aber die Beweise.»
Die Richtlinien seien «zu pauschal», sagt auch der Allgemeinarzt Peter Spinnler aus Baden AG, der sich mit der Problematik befasst hat. «Sie lesen sich wie eine Anleitung, die Medikamente automatisch abzugeben, nach dem Motto "Nützen sie nicht - schaden sie nicht".»
Die Richtlinien erwähnten die Kosten mit keinem Wort. Spinnler: «Das ist unverantwortlich.» Die Kosten der neuen Medikamente sind beträchtlich: rund 3000 Franken jährlich pro Patient. Bei einer Krankheitsdauer von acht Jahren kosten die Medikamente für etwa 100000 Patienten 200 Millionen Franken.
Dass es «keine verlässliche Kosten-Nutzen-Analyse» gibt, räumt selbst Andreas Monsch ein, der an der Ausarbeitung der Richtlinien beteiligt war. Trotzdem behauptet Monsch, Forschungsleiter der Basler «Memory Clinic», dass die Betagten dank der Arzneien später als sonst in ein Heim müssen. «Die Krankheit lässt sich mit den Medikamenten um sechs bis zehn Monate verzögern.»
Andreas Monsch nimmt an, dass sie die Endphase von Alzheimer verkürzen, das Leben selbst aber nicht verlängern. Zehn Monate Heim kosten 50000 bis 100000 Franken. Monsch: «Das Kosten-Nutzen-Verhältnis fällt klar zugunsten der medikamentösen Behandlung aus.» Er räumt jedoch ein, dass erst zusätzliche Studien klare Beweise liefern.
Wie die Arzneien auf Dauer wirken, ist unbekannt
Deshalb spricht Etzel Gysling, Arzt und Herausgeber der unabhängigen Zeitschrift «Pharma-Kritik» von «purer Spekulation». Die Medikamente seien erst seit kurzem auf dem Markt. Die Forschung wisse deshalb wenig darüber, wie die Medikamente auf Dauer wirken.
Trotzdem empfiehlt das «Alzheimer Forum Schweiz», die Medikamente breit abzugeben. Gysling: «Die Pharmaindustrie macht da wohl ziemlich viel Druck.» Er selber verschreibe die Medikamente nur mit grösster Vorsicht. «Viele Patienten klagen über Nebenwirkungen wie Übelkeit. Nur wenige profitieren wirklich.»
Das deutsche «Arznei-Telegramm» hat den Cholinesterase-Hemmer Exelon unter die Lupe genommen. Fazit: Das Medikament abzugeben sei wie bei anderen Cholinesterase-Hemmern wegen der Nebenwirkungen «weder sinnvoll noch hinsichtlich der Störwirkungen vertretbar».
Alex Flückiger, Arzt für innere Medizin in Biel, doppelt nach: «Bloss knapp ein Drittel spricht auf die Medikamente an. Der Durchbruch in der Alzheimer-Behandlung ist nicht gelungen.» Flückiger fordert Ärzte auf, alle drei Monate zu kontrollieren, ob und wie die Medikamente überhaupt wirken.
Was Ärzte auch beachten sollten: Sanftere Mittel wie hoch dosiertes Ginkgo Biloba oder Vitamin E zeigten in Studien vergleichbare Wirkungen.
Im Mai plant das «Alzheimer Forum» die nächste Konferenz. Eine Gelegenheit, die Richtlinien zu korrigieren. Einig sind sich Befürworter und Gegner in einem Punkt: Die Medikamente sind nur ein Hilfsmittel. Das Unterstützen der Patienten durch Angehörige und Bekannte wirkt besser.
Pirmin Schilliger
Vergesslichkeit ist nicht gleich Alzheimer
Mit dem Alter lässt die Gedächtnisleistung des Gehirns nach. Aber nicht jede Vergesslichkeit ist ein Anzeichen von Alzheimer.
Laien können Alzheimer von normaler Vergesslichkeit so unterscheiden:
- Eine normale Altersvergesslichkeit kann man kompensieren: Mit einem Kalender und Zetteln etwa, worin man alles Wichtige sofort notiert.
- Das durch Alzheimer verursachte Leistungsdefizit lässt sich dagegen kaum kompensieren. Alzheimer-Patienten finden sich in ihrer gewohnten Umgebung nicht mehr selbständig zurecht.
- Wer Alzheimer hat, kann nicht mehr richtig kochen, verirrt sich beim Einkaufen und weiss nicht, ob bestimmte Dinge bereits erledigt sind oder nicht.