Seit rund acht Monaten ist Ursus Kaiser (Name ge­ändert) trocken. Vor dem Entzug trank der 43-Jährige rund 4 Liter Rotwein – pro Tag. «Am Schluss wachte ich selbst in der Nacht auf und musste Wein trinken», berichtet er. Drei Jahre lang bestimmte Alkohol sein Leben. Die Leberwerte waren «katastrophal», erinnert sich Kaiser. Viermal versuchte er den Entzug. In der Klinik boten ihm Ärzte nach dem Entzug jeweils das Medikament Antabus an, um abstinent zu bleiben. Wer es nimmt, verträgt keinen Alkohol mehr. Der Körper reagiert auf jeden Schluck mit Übelkeit und Erbrechen oder einem rotem Kopf. 

Doch die Nebenwirkungen können lebensgefährlich sein, bis hin zu Herzversagen. Deshalb verzichten  viele Patienten auf die ­Tabletten. Auch Kaiser hatte sich dagegen entschieden. «Antabus ist ein Abschreckungsmedikament. Man muss ­sicher sein, dass man keinen Rückfall bekommt», sagt er.

Die Pharmaindustrie hat mittlerweile andere Medikamente auf den Markt gebracht. Das neueste ist Selincro. Es soll nicht zur Abstinenz führen, sondern zu moderaterem Trinken verhelfen. Selincro wirkt laut Hersteller Lundbeck im Be­lohnungssystem des Gehirns und soll den Teufelskreis des steigenden Konsums unterbrechen. Lundbeck sagt, dass Patienten ihren Alkoholkonsum mit den Tabletten um bis zu 60 Prozent reduzieren können. Selincro ist seit Sommer 2014 in der Schweiz zugelassen. Es wird von der Grundversicherung bezahlt. Ärzte dürfen es jedoch nur verschreiben, wenn Patienten abhängig sind und zusätzlich eine Therapie machen. 

Jede zehnte Testperson hatte Beschwerden

Doch Fachleute kritisieren das Medikament stark. Das deutsche Fachblatt «Gute Pillen – Schlechte Pillen» schrieb kürzlich: «Wir raten von Selincro ab.» Grund sei die dürftige Datenlage. Studien zeigten, dass Patienten, die Selincro nehmen, im Durchschnitt pro Tag bloss etwa ein halbes Glas Wein weniger tranken als Teilnehmer, die ein Scheinmedikament eingenommen hatten. Zudem konnte man nicht untersuchen, ob Selincro langfristig die schädlichen Nebenwirkungen des Alkohols verringern kann. Dazu gehören Leberschäden, gewisse Krebsarten oder Unfälle – zum Beispiel wegen Gleichgewichtsstörungen. Ausserdem sei der Wirkstoff Nalmefen schlecht verträglich: Viele Testpersonen brachen die Teilnahme an der Studie vorzeitig ab. Jeder Zehnte klagte über Übelkeit, Schwindel, Schlaf­losigkeit oder Kopfschmerzen. 

Kommt dazu: Lösen Patienten ihr Grundproblem nicht, erhöht sich der Alkoholkonsum wieder, sobald sie das Medikament absetzen. Psychologin Margrit Bertrand führt für die Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme Kurse durch: «Betroffene sollten mittels Therapie herausfinden, warum sie ­eigentlich Alkohol trinken.» Und zu Selincro sagt sie: Es könne nichts gegen das «Craving» ausrichten, das plötzliche und zwanghafte Verlangen nach Alkohol. Denn das Mittel wirke zu wenig rasch.

Hersteller Lundbeck verweist auf die englische Gesundheits­organisation Nice, die Selincro bei starkem Trinken empfehle. Mit der Pille liesse sich die täg­liche Trinkmenge um etwa 18 g, also anderthalb Drinks, reduzieren. Das sei mehr, als eine Psycho­therapie alleine bewirke.

Untersuchung zeigt: Lioresal wirkt kaum

Andere Medikamente gegen Alkoholsucht haben das Ziel, dass Patienten abstinent bleiben. Dazu gehören Campral, Naltrexin und Lioresal. Doch die ersten beiden Mittel haben im besten Fall eine bescheidene Wirkung. Dies belegt eine Untersuchung der Cochrane Collaboration, einer in­ter­natio­nalen Vereinigung unabhängiger Wissenschafter. Bei Lioresal kam Cochrane zum Schluss, es gebe keinen Nachweis, ob das Mittel überhaupt wirke. 

Ein ähnliches Fazit zieht Olivier Grehl von der Stiftung Berner Gesundheit: Campral sei in der Praxis oft nicht wirksam. «Zu Lioresal gibt es kaum Studien, die nahelegen, dass es irgendwie wirken könnte», stellt Grehl fest. Hersteller Merck schreibt, das Medikament Campral könne Betroffene nach dem Entzug im Rahmen einer Gesamtbehandlung «unterstützen». 

Mittlerweile bieten immer mehr Beratungsstellen Kurse an, wie Betroffene ihr Verhalten so ändern können, dass sie weniger trinken. Der Patient führt dabei auch ein Trinktagebuch, in dem er sich vornimmt, wo und wann er wie viel trinkt. Das erfordere zwar eine «hohe Disziplin», wie Grehl sagt. Dennoch schaffe es jeder zweite Kursteilnehmer, längerfristig seinen Konsum zu reduzieren. Manche erreichen dadurch sogar die Ab­stinenz.

Viele Menschen realisieren gar nicht, dass sie bereits ein Alkohlproblem haben. Anzeichen dafür: Risikopersonen trinken ­jeden Tag offen oder versteckt ­Alkohol. Sie hören nie auf nach dem ersten Glas. Sie haben Gedächtnis­lücken und Schuld­gefühle nach dem Trinken oder sind oft gereizt. 

Tipps Alkohol: So bekommen Sie Ihr Trinkverhalten in den Griff

Trinken Sie massvoll

Männer sollten nicht mehr als zwei alkoholische Drinks pro Tag zu sich nehmen. Das sind 2 Gläser Wein oder 2 Stangen Bier. Frauen sollten maximal die Hälfte davon trinken. Wer mehr trinkt, ge­fähr­det Gehirn, Leber und Bauchspeicheldrüse. Zudem ist das Risiko für Krebs erhöht.

  • Schalten Sie zwei alkoholfreie Tage pro Woche ein.
  • Setzen Sie zeitliche ­Grenzen: Trinken Sie nie vor 17 Uhr.
  • Trinken Sie nie nach 22 Uhr, das stört den Schlaf.
  • Verwenden Sie kleine ­Gläser.
  • Trinken Sie Wein und Bier langsam. 
  • Verzichten Sie auf Hoch­prozentiges.
  • Löschen Sie den Durst nicht mit alkoholischen Getränken.
  • Führen Sie ein Trinktagebuch.

Adressen: 

  • Organisation Sucht Schweiz: Sie berät Menschen  mit Alkohol- und Drogenproblemen; Tel. 0800 104 104 (gratis) 
  • Anonyme Alkoholiker: Dort können Betroffene ihre Erfahrungen austauschen. Infos:  
    www.anonyme-alkoholiker.ch, 24-Stunden-Hotline 0848 848 885 (8 Rp./Min.)

Auch für Angehörige von ­Menschen mit Alkoholprob­lemen gibt es Hilfe: