Nach dem Unfall brachte der Chef den Lehrling sofort in die Notfallstation. «Seither haben wir nie mehr etwas von ihm gehört», klagt der Baumeister dem Einzelrichter des Kantonsgerichts Schaffhausen. «Er hat nicht telefoniert, nicht geschrieben – da war komplette Funkstille.» In seinen Worten schwingt eine tiefe Enttäuschung mit. Ist es der fehlende Durchhaltewille des angehenden Maurers, der sich sang- und klanglos aus der Lehre davonstahl? Die Ernüchterung darob, wie schnell sich die Begeisterung des Lehrlings in Desinteresse verwandelte? Der Frust, dass Briefe und Mails mit Vorschlägen zum weiteren Vorgehen unbeantwortet blieben? Seit dem Unfall verstrichen anderthalb Jahre, bis der Chef den Schlüssel zum Betrieb per Post zurückerhielt. Selbst das Lehrlingsamt schaffte es nicht, die Wogen zu glätten.
Vor dem Gerichtssaal treffen sich die zwei zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder. Der Gruss ist knapp, die Anspannung beiden ins Gesicht geschrieben. Nun blättert der Lehrmeister drinnen im Saal in einem blauen Ordner in Papieren, bevor er über das mangelnde Interesse des Ex-Lehrlings am überbetrieblichen Kurs des Baumeisterverbands herzieht. Jeder Auszubildende müsse den Kurs besuchen, sagt er, «der Kerli ging auch hin – aber er hatte kein Interesse daran, irgendwann mal eine Fachkraft zu werden».
Arbeitgeber: Gegenforderung statt Lohn und Unfallgeld
Der bleiche «Kerli» schüttelt missbilligend den Kopf. Er habe ihn gern gehabt als Chef, wird er später sagen. 4700 Franken fordert der junge Mann vom ehemaligen Lehrbetrieb. Das ist die Summe aus zwei Monatslöhnen und dem Unfalltaggeld. Die Suva zahlte das Taggeld einige Zeit an den Betrieb aus, bevor sie es direkt an den Verunfallten überwies. Beim Lehrlingsamt habe man ihm versichert, er werde sein Geld erhalten, wenn er den Schlüssel zurückschicke, berichtet er.
Dem war aber nicht so. Der Lehrling stellte Rechnung, verlangte Verzugszinsen. Doch der Chef überwies das Geld nicht. Stattdessen konterte er mit einer Gegenforderung von 1900 Franken, die er penibel aus diversen Posten zusammenrechnete: den Kurskosten, dem Wert der zur Verfügung gestellten Materialien wie Werkzeugkiste, Arbeitshose, Doppelklappmeter, Handcreme, Taschenbuch, Fachliteratur und Arbeitsbuch. Erneut konsultierte der angehende Maurer das Lehrlingsamt. Dort beschied man ihm, so erzählt er, dass nur der Rechtsweg bleibe. Also leitete er die Betreibung ein, der Chef erhob dagegen Rechtsvorschlag. Der Lehrling zog den Fall ans Gericht weiter.
«Meine Gegenforderungen habe ich etwas überspitzt aufgestellt», gesteht der Chef auf Nachfrage des Richters. Er habe sich erhofft, den Lehrling dazu bewegen zu können, sich an einen Tisch zu setzen und die ganze Angelegenheit zu diskutieren. Seine Sekretärin habe eine Vereinbarung über die Auflösung des Lehrvertrags vorbereitet – doch ein Treffen habe sich nicht ergeben.
«Es stimmt, ich habe mich lange nicht gemeldet», räumt der Kläger ein. Grund sei aber nicht, dass er sauer auf den Lehrbetrieb gewesen sei, «ich fand einfach die Kraft nicht dazu». Den Daumen habe man fast amputieren müssen, es sei zu Entzündungen gekommen: «Hätte er doch nach dem Unfall bloss mal angerufen, es hätte mir wirklich gutgetan.» Er selbst habe sich mal telefonisch gemeldet, aber den Chef nicht erreicht. Dann stand der Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik an, die berufliche Neuorientierung. Und wichtig ist ihm: «Im Kurs habe ich gute Noten erhalten.»
Lehrling feilscht erfolgreich um einen Vergleich
«Das stimmt eigentlich», bestätigt der Chef. Langsam taut das frostige Klima. Der Richter wittert Vergleichsbereitschaft. Der Lehrling sagt zwar, die Kosten für die Werkzeugkiste seien ihm zu erlassen, signalisiert aber ein gewisses Entgegenkommen. Der Richter halbiert die umstrittene Gegenforderung und schlägt vor, sich bei 3800 Franken zu einigen.
Wie er auf diesen Betrag komme, fragt der Lehrling. «Das sagt mein Bauch», meint der Richter. «Mein Bauch sagt jeweils auch so einiges», entgegnet der Lehrling schlagfertig. «Der Beklagte soll die Kurskosten tragen, der Kläger die Maurerkiste zahlen», sagt der Richter. «Nein, 4000!», verlangt der Lehrling. Der Chef schlägt ein, falls die Betreibung gelöscht werde – der Vergleich ist zustande gekommen.
Prozessieren: Klare Verhältnisse sparen Geld und Umtriebe
Arbeitsverträge enden in der Regel durch Kündigung des Angestellten oder des Betriebs. Eine Kündigung ist leicht beweisbar: mit einer Empfangsbestätigung oder einem eingeschriebenen Brief. Und sie schafft Klarheit, wann der Vertrag abläuft.
Ist nicht klar, wer wann auf welchen Termin gekündigt hat, kommt es nicht selten zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Wenn ein Angestellter einfach ohne Kündigung nicht mehr zur Arbeit erscheint, haben Arbeitgeber nämlich Anspruch auf eine Mindestentschädigung in der Höhe eines Viertels des Monatslohns. Zusätzlich können sie weiteren Schadenersatz geltend machen. Sie müssen den finanziellen Nachteil aufgrund der plötzlichen Arbeitsaufgabe aber Franken für Franken belegen.