Der Schreck für die ­Passagiere war gross, als der Zug von Lugano nach Zürich am 21. November um 19.30 Uhr auf der Gotthardstrecke entgleiste. Regina Schweizer aus Rafz ZH war an Bord – und kritisiert die schlechte Betreuung der Reisenden durch die SBB.

Wie haben Sie den Unfall erlebt?

Mein Mann, ein befreundetes Ehepaar und ich sassen im hintersten Wagen. Dazu eine Sportgruppe mit Jugendlichen, ein Touristenpaar aus Bangladesch und drei, vier weitere Passagiere. Nach Gurtnellen gab es einen grauenhaften Schlag, danach begann der Wagen heftig zu rütteln. Wir retteten uns unter die Sitze. Die Mädchen der Sport­gruppe gerieten in Panik. Das Torusitenpaar begann zu beten.

Hielt der Zug nicht an?

Nein. Das Rütteln hörte nicht auf, der Zug fuhr einfach weiter und beschleunigte zwischendurch sogar noch. Unser Kollege raffte sich deshalb auf und suchte den Kondukteur. Dieser zog schliesslich die Notbremse. Als der Zug stand, folgte die Durch­sage, dass wahrscheinlich eine Fahrleitung heruntergerissen worden sei.

Wie lange mussten Sie warten, bis Sie den Zug verlassen konnten?

Nach etwa 30 Minuten kam auf dem anderen Gleis ein Zug mit SBB-Einsatzkräften, die sich ein Bild der Lage machten. Es war alles ziemlich chaotisch. Wir mussten noch eineinhalb bis zwei Stunden warten. Erst dann wurden wir mit einer Art Arbeitszug nach Erstfeld gebracht.

Wie ging es weiter?

Wir wurden in einen Zug geleitet, dann passierte wieder längere Zeit nichts. Dann kam die Durchsage, dass wir auf den Lokführer warten müssten. Später hiess es in einer Durch­sage, dass wir nun nach Arth-Goldau fahren würden. Kurz vor Ankunft wurden wir informiert, dass wir in eine S-Bahn nach Zug umsteigen müssten. In Arth-Goldau hasteten wir zur S-Bahn, die gerade einfuhr. Kaum waren wir eingestiegen, fuhr sie los. Der Lokführer war offenbar nicht darüber informiert, dass die Passagiere aus dem Unfallzug noch zusteigen. Ich glaube nicht, dass alle die S-Bahn rechtzeitig erreichten. Einige hatten grosse Koffer dabei.

Wie wurden Sie über den weiteren Reiseweg informiert?

Gar nicht. In der S-Bahn nach Zug gab es keine speziellen Ansagen mehr. Als wir dort angekommen waren, war es Mitternacht.  Als wir auf dem Perron für den Zug nach Zürich ankamen, war dieser bereits abfahrbereit. Wir sagten dem Kondukteur, dass ­weitere Passagiere folgen würden. Auch er war nicht informiert worden.

Kamen Sie noch mit der Bahn nach Hause?

Wir kamen um etwa halb eins in Zürich an und be­stiegen um 0.40 Uhr den Zug nach Bülach. Dort holte uns zum Glück der Bruder meines Mannes ab und fuhr uns nach Rafz.

Wie empfanden Sie die Betreuung unmittelbar nach dem Unfall und im weiteren Verlauf?

Zu Beginn war sie für uns in Ordnung. Die Touristen aus Bangladesch haben wir dann selber auf Eng­lisch informiert. Ab Arth-Goldau wurden aber auch wir im Stich gelassen. Das Personal der Anschluss­züge war nicht informiert. Es war auch niemand von den SBB vor Ort. Es hätte ja sein können, dass jemand ein Hotel braucht. Ich frage mich auch, warum die Personalien der Passagiere aus dem hintersten Wagen nicht aufgenommen wurden. Meine Kollegin zum Beispiel litt nach dem Unfall unter ­Rückenschmerzen.

SBB räumen «Versäumnis» ein: Reisende sollen sich melden

Im ICN von Lugano nach Zürich befanden sich zum Zeitpunkt des Unfalls rund 180 Reisende. 

Nach dem Steinschlag fuhr die Komposition trotz der entgleisten Achse rund 2 Kilometer weiter. Die SBB schreiben dem K-Tipp: «Da der Zug über verschiedene Achsen angetrieben wird, bemerkt der Lok­führer die Störung nicht zwingend. In den vorderen Wagen war das entgleiste Dreh­ge­stell nicht bemerkbar. Wir be­dauern sehr, dass die Menschen im Bahnwagen verängstigt waren, und möchten uns herzlich entschuldigen.» Nach der Evakuation des Zugs wurden die Passagiere mit einem Lösch-und-RettungsZug nach Erstfeld transportiert. «Dort hat man sie beim Umsteigen auf die Anschlussverbindungen unterstützt», so die SBB. Zum Vorwurf, die Reisenden seien ab Arth-Goldau im Stich gelassen worden, haben die SBB nicht Stellung genommen.

Die SBB geben aber zu, es sei «tatsächlich ein Versäumnis» gewesen, dass die Personalien der rund 20 Reisenden im hintersten Wagen nicht aufgenommen wurden. «Bei der Evakuation waren die Passagiere nach unseren Informationen sehr ruhig und glücklicherweise unverletzt. Wir bitten Reisende, die sich im hintersten Wagen befanden, sich beim Kundendienst zu melden.»