Die Niederungen der Arbeitswelt
Der verdeckte Journalismus ist das Markenzeichen von Günter Wallraff. Einst schmuggelte er sich als Reporter in die «Bild»-Redaktion oder erfuhr verkleidet aus erster Hand, wie es sich als türkischer Gastarbeiter in Deutschland anfühlt. Bis heute deckt Wallraff Zustände auf, die man auf andere Weise nicht erfahren könnte. Auf der DVD «Undercover» sind drei Reportagen der letzten Jahre vereint.
In «Bei Anruf Abzocke» verkleidet sich der 68-jährige Wallraff als 51-jähriger Stellensuchender und jobbt durch deutsche Callcenter. Dort muss er Lottoscheine verkaufen und den Kunden einen beinahe sicheren Gewinn vorgaukeln. Im Angestelltentraining erfährt er – und die Zuschauer via versteckte Kamera mit ihm – die Tipps und Tricks der Mitarbeiter. Und welche Sprüche helfen, den ungefragt angerufenen Kunden ihr Geld aus der Tasche zu ziehen und an ihre Bankdaten zu kommen.
Körperlich hart wird es für Wallraff im Film «Wo Arbeit wehtut». Er schleust sich als Arbeiter in eine Brötchenfabrik ein, die ihre Waren hauptsächlich an Lidl liefert. Seine Frage: Wie schafft es die Fabrik, so günstig zu produzieren? Die Antwort: Bei einem Lohn von rund 7 Euro pro Stunde kämpfen die Angestellten mit schlechten Arbeitsbedingungen und haarsträubenden Sicherheitsmängeln am Ofen. Wegen der fehlenden Hygienemassnahmen setzen Wände und Maschinen Schimmel an.
In der Reportage «Unter Null» stellt sich Wallraff dem Leben als Obdachloser. Er geht der Frage nach, ob die Notunterkünfte tatsächlich in ihrer Rolle als Auffangstation für Randständige funktionieren. Die Filme sind wegen der häufig eingesetzten versteckten Minikamera zwangsläufig oft von mässiger Bildqualität. Ihren Zweck erfüllen sie jedoch mehr als genug: Sie liefern einen beeindruckenden Einblick ins Leben der sozial Schlechtgestellten.
Günter Wallraff: «Undercover, Reportagen aus der schönen neuen Welt». Regie: Pagonis Pagonakis. Deutschland 2009. 117 min. Anbieter: Absolut Medien, 2010.
CD-Tipps
Pop/Rock: Aufbruch in den Frühling
«Was ist denn das für Musik?», fragt der Büronachbar, als er Tonfetzen von Efterklang erhascht. Die Antwort darauf ist keineswegs einfach. Auf seinem dritten Album «Magic Chairs» serviert das Quartett aus Dänemark eine eigenwillige, eher kopflastige Musik, die sich gängigen Kategorisierungen entzieht. Zu hören ist eine Kombination aus Pop, Folk, etwas Elektronik und klassischer Kammermusik. Entsprechend breit ist die Instrumentierung von Streichern und Flöten bis hin zu Trompete und Gitarre. Wundervoll arrangiert gleiten die zehn epischen Songs dahin. Der Sound ist sanft und melancholisch, verströmt aber zugleich Wohlbehagen und Aufbruchstimmung – das Richtige für den Frühlingsbeginn.
Efterklang, «Magic Chairs», MV
Klassik: Händels Passionsgeschichte
Es muss nicht immer Bachs Matthäus-Passion sein: Auch Händel hat sich, was kaum bekannt ist, der Passionsvertonung angenommen. Er wählte die Passionsdichtung von Bartold Heinrich Brockes als Textvorlage. Bach war begeistert und erstellte von Händels Werk eine Abschrift – damit blieb es der Nachwelt erhalten, denn das Original ist verschollen. Die Passion fristet aber trotzdem ein Schattendasein. Zu Unrecht, wie der Kölner Kammerchor und das Collegium Cartusianum unter Peter Neumanns Leitung auf ihrer neuen CD zeigen: Die Musiker liefern ein facettenreiches Porträt des zwischen furioser Dramatik und sanfter Demütigkeit aufgespannten Werks.
Kölner Kammerchor, Collegium Cartusianum, Peter Neumann, «Händel: Brockes.Passion», Carus
Jazz: Aus dem Busch gelockt
Das Spätwerk des 1927 geborenen Altsaxofonisten Lee Konitz ist riesengross, aber auch von sehr unterschiedlicher Qualität. Da tut es not, die Spreu vom Weizen zu trennen. Eine nun vorliegende Live-Aufnahme, die Konitz’ Rückkehr in den berühmtesten Jazzkeller der Welt dokumentiert, darf man unumwunden als Meisterwerk bezeichnen. Das liegt nicht zuletzt am Trio Minsarah, das aus Florian Weber (Piano), Jeff Denson (Bass) und Ziv Ravitz (Schlagzeug) besteht: Mit mal tollkühn-übermütigen, mal mysteriös-abstrakten De- und Rekonstruktionen von Stücken, die Konitz in- und auswendig kennt, gelingt es dem fabulösen Triumvirat, den Meister gehörig aus dem Busch zu locken.
Lee Konitz New Quartet, «Live at the Village Vanguard», Enja