Der Ehekrieg kennt keine Sieger
Depressionen, Schlafstörungen oder ein kranker Magen - das sind Konsequenzen, wenn ein Elternteil seine Kinder nach der Trennung nicht mehr sehen darf. Jetzt berichten Betroffene.
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Gesundheitstipp 12/2005
07.12.2005
Sonja Marti
An der Liebe zu seinem Sohn lässt der 25-jährige Miro Quenson aus Frauenfeld keinen Zweifel: «Ich liebe meinen Sohn mehr als mein Leben und würde alles tun, damit es ihm gut geht.» Doch seit einem Jahr kann er nichts mehr für den kleinen Alexander tun. Seine Mutter hat ihn nach der Trennung mit nach Brasilien genommen.
Der Verlust des zweieinhalbjährigen Sohnes machte Quenson krank: «Ich konnte monatelang nicht arbeiten.»...
An der Liebe zu seinem Sohn lässt der 25-jährige Miro Quenson aus Frauenfeld keinen Zweifel: «Ich liebe meinen Sohn mehr als mein Leben und würde alles tun, damit es ihm gut geht.» Doch seit einem Jahr kann er nichts mehr für den kleinen Alexander tun. Seine Mutter hat ihn nach der Trennung mit nach Brasilien genommen.
Der Verlust des zweieinhalbjährigen Sohnes machte Quenson krank: «Ich konnte monatelang nicht arbeiten.» Er hatte schwere Depressionen. «Ich schaffte es nicht einmal mehr, die einfachsten und alltäglichsten Dinge selbst zu erledigen.» Miro Quenson ging regelmässig in die Psychotherapie. Und er brauchte Medikamente: «Ohne Antidepressiva konnte ich morgens kaum das Haus verlassen.»
Nur selten bekommt Miro Quenson eine E-Mail aus Brasilien. Dann erfährt er, dass es seinem Sohn auch nicht gut geht. Er vertrage das Essen nicht, sei ständig krank. «Anfangs begann ich bei solchen Meldungen zu hyperventilieren», erinnert sich Quenson. «Unterdessen habe ich nicht mehr die Kraft, für meinen Sohn zu kämpfen.»
Neun von zehn Kindern leben bei ihrer Mutter
Miro Quenson ist kein Einzelfall. Beim Gesundheitstipp haben sich zahlreiche Leser gemeldet, denen der Kontakt zu den Kindern nach der Trennung verweigert wird. Betroffen sind vor allem Väter. Denn in der Schweiz leben neun von zehn Scheidungskinder in der Obhut der Mutter, die meist auch das Sorgerecht hat. Das heisst: Sie trifft die Entscheidungen für das Kind, erzieht es und verwaltet seine Finanzen. Für den Vater bleibt dann nur das Besuchsrecht. Und um dieses gibt es oft Streit. Ursache sind die verletzten Gefühle durch die gescheiterte Beziehung. «Die Eltern sind nicht fähig, ihre zerrissene Paarbeziehung von ihrer gemeinsamen Aufgabe als Eltern zu trennen», sagt Oswin Bucher, Paar- und Familientherapeut aus Rapperswil SG. Zahlen aus Deutschland zeigen: Bei 15 bis 20 Prozent der Scheidungen kommt es zu massiven Konflikten.
Doch bei diesem Kampf gewinnt keiner - weder Vater, Mutter noch Kinder oder Grosseltern. Alle Beteiligten leiden unter dieser Situation - auch gesundheitlich.
Das musste auch der 38-jährige M.L. erleben. Nach der Trennung von seiner Frau konnte er seine heute sechsjährige Tochter manchmal monatelang weder sehen noch hören. Seine Ex-Frau verweigerte ihm das Besuchsrecht und warf ihm schliesslich vor, er habe sexuelle Übergriffe auf seine Tochter begangen. Das war vor Gericht zwar nicht haltbar. Doch für M.L. war diese Zeit furchtbar. «Durch den psychischen Stress bekam ich starke Rückenschmerzen, die bis in die Beine ausstrahlten, und ich nahm zehn Kilogramm zu», sagt er. «Ich merkte, dass ich mich auf einem sehr schmalen Grat bewegte.» Heute - nach drei Jahren - geht es M.L. wieder besser. Doch die Scheidungskrise hatte Folgen: Weil er weniger leistungsfähig war, kündigte ihm sein Arbeitgeber, für den er 20 Jahre gearbeitet hatte.
Eine Studie des deutschen Sozialwissenschaftlers Gerhard Amendt von der Uni Bremen (D) hat gezeigt: Drei von vier Männern geraten durch die Scheidung in eine schwere gesundheitliche Krise - bei vielen halten die seelischen und körperlichen Probleme an. Jeder dritte braucht psychologische Hilfe.
Das bestätigt Arzt Roger Baumann aus Adligenswil LU. Er hat 27 Studien zum Thema Scheidung und Gesundheit analysiert. Das Resultat: Geschiedene Männer sterben häufiger an Herzinfarkt, Enddarm- und Speiseröhrenkrebs als andere Männer. Sie sind häufiger alkoholkrank, leiden unter Schmerzen und Depressionen und begehen öfter Suizid.
Gekappter Kontakt zu den Grosseltern
Unter dem Verlust der Kinder leiden oft auch andere Angehörige - vor allem die Grosseltern. So auch Marlen Zocchi aus Samstagern ZH. Seit sich ihr Sohn von seiner Frau getrennt hat, darf sie ihre beiden sechs- und neunjährigen Enkelinnen nicht mehr jede Woche zu Besuch holen. Sie sieht die Mädchen nur noch, wenn sie beim Vater sind. Marlen Zocchi fiel in eine Depression, von der sie sich nur langsam erholt. «Ich konnte nicht mehr schlafen und hatte wahnsinnige Angst, dass den Mädchen etwas passiert.» Sie schluckte Beruhigungsmittel und Antidepressiva.
Doch Marlen Zocchi gibt die Hoffnung nicht auf, dass sie ihre Enkelinnen irgendwann wieder häufiger sehen darf. Denn auch die Kinder leiden unter der Trennung. Die Neunjährige müsse regelmässig zur Therapie. Und die Sechsjährige habe einen Entwicklungsrückstand. «Eine Zeit lang hat sie kaum gegessen, und sie nahm stark ab», erinnert sich Grossmutter Zocchi.
Die wehrlosen Opfer dieser Rosenkriege sind die Kinder. Können sich Eltern nicht in nützlicher Frist einigen, leiden Kinder oft ein Leben lang unter den Folgen. Das hat eine Studie der deutschen Soziologin Anneke Napp-Peters gezeigt.
Das Ergebnis ist erschreckend: Nur ein Viertel der Kinder schaffte es, die scheidungsbedingten Schwierigkeiten zu überwinden. Die übrigen hatten dagegen Probleme, den Alltag zu bewältigen und längerfristige Perspektiven für ihr Leben zu entwickeln. Knapp die Hälfte litt unter Alkohol- und Drogenproblemen. Napp-Peters: «Für ihre emotionale Stabilität brauchen Kinder den regelmässigen Kontakt zu beiden Eltern.»
Gemeinsames Sorgerecht: Schritt in die richtige Richtung
Auch der Rapperswiler Familientherapeut Oswin Bucher weist auf die langfristigen Folgen für die Kinder hin: «Sie haben oft ihr Leben lang Angst, verlassen zu werden.» Für Bucher ist klar: «Es ist eine grosse Leistung, wenn Eltern sich so trennen, dass die Kinder möglichst wenig leiden müssen.»
Eine Möglichkeit dazu bietet das gemeinsame Sorgerecht von Mutter und Vater. Sie fällen dann zusammen die wesentlichen Entscheidungen für ihr Kind. Die Eltern müssen dafür einen gemeinsamen Antrag stellen. Nach offiziellen Zahlen passiert das heute nur bei jeder vierten Scheidung. Denn wenn einer von beiden - in der Regel die Mutter - dagegen ist, gibt es kein gemeinsames Sorgerecht. Deshalb fordert jetzt der Schwyzer Nationalrat Reto Wehrli in einem Postulat, dass die gemeinsame Sorge zum Normalfall wird. Das heisst: Will ein Elternteil das alleinige Sorgerecht, muss er dies vor dem Richter begründen.
Lu Decurtins, Sozialpädagoge und Supervisor, Mitbegründer der Zürcher Beratungsstelle «Mannebüro», ist zwar für das gemeinsame Sorgerecht, «da es Väter und Mütter gleichstellt». Doch er ist skeptisch: «Bei einem ungelösten Konflikt nützt auch die beste rechtliche Lösung wenig.» Das bestätigt die Psychologin und Mediatorin Miriam Rosenthal vom Verein «Trialog - Kinder in Scheidung»: «Das gemeinsame Sorgerecht ist nicht für alle Scheidungsprobleme eine Lösung.» Aber es könne Eltern dazu motivieren, gemeinsam die Verantwortung für die Anliegen des Kindes zu übernehmen.
«Der Vater kommt nicht mal zum Geburtstag des Kinds»
Das wollte auch die 31-jährige Jasmin Keller (Name geändert). Sie schlug ihrem Ex-Mann vor, das Sorgerecht für den heute sechsjährigen Sohn zu teilen. «Ich finde es wichtig, dass er viel Kontakt zu seinem Vater hat», sagt Keller. Doch der Vater lehnte ab. Auch wollte er nicht mehr Besuchstage. «Er bemüht sich kaum um das Kind. Er ruft nicht an. Er kommt nicht zum Geburtstag.» Und auch für Weihnachten sieht Jasmin Keller schwarz: «Letztes Jahr hat er dem Kleinen kurzfristig abgesagt.»
Ob mit gemeinsamem oder alleinigem Sorgerecht - wichtig ist, dass sich beide Eltern an einige Spielregeln halten. Miriam Rosenthal rät:
- Beide Eltern sollten das Kind regelmässig darüber informieren, was die Trennung konkret für sein Leben bedeutet.
- Der Kontakt zu Verwandten, Bekannten und Nachbarn sollte nicht abgebrochen werden. Sie bieten dem Kind ein stabiles Beziehungsnetz.
- Die Eltern sollten anständig miteinander verkehren.
- Sie sollten dem Kind die positiven Erfahrungen mit dem anderen Elternteil nicht schlecht machen - weder durch Worte noch durch Mimik.
- Die Vergangenheit als Familie sollte nicht verdrängt werden. Sie gehört zur Geschichte des Kindes. Das heisst zum Beispiel, gemeinsam Fotoalben anschauen.
- Die Eltern sollten dem Kind gegenüber in wichtigen Fragen gemeinsam auftreten, um zu zeigen, dass sie die Verantwortung teilen.
Familientherapeut Oswin Bucher findet es deshalb gut, wichtige Feste wie Weihnachten oder Geburtstage gemeinsam zu feiern, wenn das Kind das möchte. Miriam Rosenthal weist jedoch darauf hin: «Eltern sollten nur das dem Kind zuliebe tun, wozu sie emotional auch in der Lage sind.»
Weihnachten nach der trennung
Schicken Sie uns Ihr Foto!
Kinder wünschen sich oft, auch nach der Trennung gemeinsam mit Mama und Papa Weihnachten zu feiern. Haben Sie das geschafft? Schicken Sie uns ein Foto von Ihrem Weihnachtsfest und schreiben Sie uns, warum und wie Sie gemeinsam gefeiert haben.
Einsenden an: Redaktion Gesundheitstipp, «Weihnachten», Postfach 277, 8024 Zürich oder an redaktion@gesundheitstipp.ch.
Hier finden Sie Hilfe
Beratung:
- Frauenhäuser und -beratungsstellen gibt es in vielen Städten.
- IGM, Interessengemeinschaft geschiedener und getrennt lebender Männer, Zentralsekretariat, Postfach 182, 5018 Erlinsbach, Tel. 0900 575 218 (Fr. 2.13/Min.), info@igm.ch, www.igm.ch
- Trialog - Verein Kinder in Scheidung, Postfach 307, 8044 Zürich, Tel. 078 755 58 58, mail@schei dungskinder.ch, www.scheidungs kinder.ch
- VeV, Verantwortungsvoll erziehende Väter und Mütter, Tel. 044 363 19 78, vev@vev.ch, www.vev.ch
Mediation:
- Schweizerischer Verein für Mediation, Rankried 8, 6048 Horw, Tel. 041 342 17 63, sekretariat@ mediation-svm.ch, www.media tion-svm.ch
Buchtipp:
- Saldo-Ratgeber «Trennung und Scheidung», zu bestellen für Fr. 25.- mit der Karte auf S. 9. Für Nichtabonnenten Fr. 5.- teurer.