Naturheilmittel - Johanniskraut zieht in die Klinik ein
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Gesundheitstipp 5/2001
01.05.2001
Spitalpatienten dürfen nun wählen: Sanfte Medizin statt chemische Antidepressiva
Johanniskraut schlägt Wurzeln in der Schulmedizin. Immer häufiger setzen Ärzte die Pflanze bei Depressionen und seelischen Verstimmungen ein. Sogar in der stationären Psychiatrie findet sie Verwendung - mit guten Resultaten.
Regula Schneider rschneider@pulstipp.ch
Werner Jäger (Name geändert) blickt aus dem Fenster. Vor ihm breitet sich der Bodensee aus. Seine Ged...
Spitalpatienten dürfen nun wählen: Sanfte Medizin statt chemische Antidepressiva
Johanniskraut schlägt Wurzeln in der Schulmedizin. Immer häufiger setzen Ärzte die Pflanze bei Depressionen und seelischen Verstimmungen ein. Sogar in der stationären Psychiatrie findet sie Verwendung - mit guten Resultaten.
Regula Schneider rschneider@pulstipp.ch
Werner Jäger (Name geändert) blickt aus dem Fenster. Vor ihm breitet sich der Bodensee aus. Seine Gedanken kreisen um die Zukunft: «Erst gestern fühlte ich mich lustlos. Die Zukunft machte mir Angst. Aber heute fühle ich mich stark genug, um Pläne zu schmieden.»
Der 60-Jährige erlebt zurzeit ein ständiges Auf und Ab. Gute und schlechte Tage reihen sich aneinander. Werner Jäger leidet unter schweren Depressionen. Vor einigen Monaten verschlechterte sich sein Zustand dramatisch. Werner Jäger wollte seinem Leben ein Ende setzen. Die Ambulanz konnte ihn im letzten Moment retten. Er wechselte vom Spital in die Psychiatrische Klinik Münsterlingen: «Der Versuch, mich umzubringen, war ein Hilfeschrei. Ich wusste, dass ich Hilfe brauche, konnte sie mir aber selber nicht holen. Ich hatte zu grosse Angst davor, in der Klinik mit Medikamenten voll gestopft zu werden.»
Seit Beginn seiner Krankengeschichte hat Werner Jäger den chemischen Medikamenten misstraut. Bei seiner ersten Depression riet ihm sein damaliger Arzt zu Antidepressiva auf chemischer Basis. Nach langem Sträuben schluckte Werner Jäger schliesslich zwei halbe Tabletten: «In der Nacht darauf bin ich aufgewacht, voller Angst, dass die Medikamente mein Wesen verändern.»
Johanniskraut unterstützt die Psychotherapie
Die gefürchteten Psychopharmaka benötigte Werner Jäger jedoch nur am Anfang seines Klinikaufenthaltes. Einige Wochen später konnte er die chemischen Mittel durch ein Johanniskrautpräparat ersetzen. Die Psychiatrische Klinik Münsterlingen bietet Patienten, die dies wünschen, komplementäre Heilmethoden an, ergänzend zu den Einzel- und Gruppentherapien. Das Naturheilmittel ist seither das einzige Medikament, das Werner Jäger einnimmt. Nebenwirkungen verspürt er keine. Er ist überzeugt, dass ihm das Johanniskraut hilft, ohne zu schaden.
Die Ärzte der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Münsterlingen setzen Johanniskraut unter anderem in der Gerontopsychiatrie ein. Auf einer Station werden Menschen ab 60 Jahren psychotherapeutisch behandelt. Der grösste Teil der Patienten leidet an mittleren bis schweren Depressionen; viele haben Suizidversuche hinter sich.
Laut Peter Bäurle, leitender Arzt der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, ziehen viele Patienten Johanniskraut den chemischen Medikamenten vor: «Wenn ein Arzt ein Medikament anbietet, das der Patient befürwortet, wirkt sich das günstig auf die therapeutische Beziehung aus.» Das Johanniskraut hilft dem Patienten, sein Tief zu bekämpfen: «Der Patient ist weniger belastet und kann sich besser mit den Ursachen seiner Erkrankung auseinander setzen. Eine Depression ist nur heilbar, wenn der Patient bereit ist, seinem Leiden auf den Grund zu gehen.»
Wirksamkeit in mehreren Studien bewiesen
Auch in anderen psychiatrischen Kliniken behandeln die Ärzte mit Johanniskraut, meistens auf Wunsch der Patienten: «Viele Patienten akzeptieren pflanzliche Präparate besser als Standard-Antidepressiva», sagt die leitende Ärztin Edith Holsboer-Trachsler von der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel, «bei weniger schweren Depressionen ist Johanniskraut ein wirksames Medikament, das wir unterstützend zur Psychotherapie abgeben.»
Bruno Kägi, Chefarzt der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Herisau setzt Johanniskraut ebenfalls ergänzend zu den herkömmlichen Medikamenten ein: «Eine Kombination aus chemischen und pflanzlichen Antidepressiva kann erreichen, dass beide Substanzen besser wirken. So ist es möglich, die chemische Dosis gering zu halten.»
Johanniskrautpräparate wie Jarsin, Remotiv und Rebalance sind bei leichten bis mittelschweren Depressionen ebenso wirksam wie chemische Produkte. Zu diesem Ergebnis kamen über 20 Studien, die die Wirkung von Johanniskrautextrakt mit den klassischen Antidepressiva Imipramin und Fluoxetin untersuchten. Im Vergleich zeigten die Johanniskrautextrakte weniger Nebenwirkungen als die chemischen Mittel.
«Vereinzelt klagen Patienten über leichte Nervosität, Verdauungsbeschwerden oder Hautrötung», sagt Ueli Honegger, Forschungsgruppenleiter für Psychopharmaka der Universität Bern. Die Gefahr, dass Johanniskraut abhängig macht, bestehe nicht: «Antidepressiva - egal ob chemische oder natürliche - bewirken im Hirn keine Veränderungen, die Sucht auslösen.»
Trotzdem warnt Honegger davor, Johanniskrautpräparate als harmlos zu betrachten: «Diese pflanzlichen Mittel sind wirksame Medikamente. Ärzte und Patienten dürfen mit ihnen nicht sorgloser umgehen als mit chemischen Präparaten.» Unbestritten ist, dass Johanniskraut die Wirksamkeit anderer Medikamente herabsetzen kann.
«Wer Johanniskrautpräparate einnimmt, sollte sich vom Arzt betreuen lassen», sagt der Arzt Andreas Steiner. Der Mediziner aus Basel hat in seiner Praxis bereits über 300 Patienten mit dem Naturheilmittel therapiert. Bei Johanniskraut sei es problemlos möglich, vom ersten Tag an die volle wirksame Dosis zu geben. Ein grosser Vorteil: «Chemische Produkte sind dagegen in den ersten Tagen oft schlecht verträglich. Das kann dazu führen, dass der Patient das Medikament frühzeitig absetzt.»
Statt Besserung nur Nebenwirkungen
Das hat Antoinette Contzen aus Richterswil ZH erlebt. Die Sozialarbeiterin litt jahrelang unter Depressionen: «Allein die Frage, welche Kleider ich am Morgen aus dem Schrank nehmen sollte, liess mich verzweifeln. Ich war total überfordert und dachte daran, mich umzubringen.» Die Mutter dreier Kinder nahm viereinhalb Jahre lang hoch dosierte chemische Antidepressiva ein. Doch deren Wirsamkeit zeigte sich lediglich in den Nebenwirkungen: «Ich zitterte stark, war blass, bekam dunkle Augenringe und eine geschwollene Zunge. Die Depressionen blieben gleich schlimm. Schliesslich setzte ich die Medikamente ab.»
Aus den Depressionen heraus fand Antoinette Contzen erst, als sie sich mit der Ursache ihres Leidens befasste. Sie tat dies in einer intensiven, zehnjährigen Therapie. Das Antidepressivum, das sie während dieser Zeit einnahm, war Johanniskraut.
Heute geht es Antoinette Contzen gut, sie arbeitet als Co-Präsidentin, für Equilibrium, den Verein zur Bewältigung von Depressionen, der sich für den Aufbau von Selbsthilfegruppen in der ganzen Schweiz engagiert. Johanniskraut ist für sie ein Mittel der Wahl: «Ich bin froh, mit Johanniskraut eine natürliche Alternative zu den herkömmlichen Antidepressiva gefunden zu haben.»
Johanniskraut: Sanft, aber nicht harmlos
Johanniskrautpräparate helfen bei Stimmungstiefs und leichten depressiven Verstimmungen. Sie gelten als sanfte Medizin, weil sie pflanzlich sind. Aber aufgepasst: Johanniskraut beeinträchtigt die Wirkung verschiedener Medikamente.
- Nehmen Sie Johanniskraut nicht mit Blut verdünnenden Mitteln, Herz- und Aids-Medikamenten oder Mitteln, die nach einer Transplantation vor Abstossung schützen. Bei der Antibaby-Pille kann es zu Zwischenblutungen kommen.
- Fragen Sie den Arzt nach Johanniskrautpräparaten. Falls ärztlich verordnet, müssen die Krankenkassen die Medikamente vergüten. Zurzeit prüft die Interkantonale Kontrollstelle für Heilmittel (IKS), Johanniskrautpräparate der Rezeptpflicht zu unterstellen.
- Lesen Sie den Beipackzettel genau, wenn Sie Johanniskraut einnehmen, ohne den Arzt aufgesucht zu haben. Beachten Sie mögliche Nebenwirkungen.
- Wenn sich ein Stimmungstief nach einiger Zeit mit Johanniskraut nicht aufhellt, sollten Sie den Arzt aufsuchen.
- Kontaktstelle für Menschen mit Depressionen:
Equilibrium, Verein zur Bewältigung von Depressionen, Neugasse 4, Postfach 4819, 6300 Zug, Tel. 041 728 71 69