Vor jeder Eröffnung einer neuen Filiale von Aldi oder Lidl hagelt es Einsprachen. Bauern und das lokale Gewerbe laufen Sturm. Die Gewerkschaften warnen vor Lohndumping. Und die Grossen lassen die Muskeln spielen: Noch bevor Lidl seine erste Filiale eröffnet hatte, setzte Coop zum Beispiel seine Lieferanten unter Druck, ja nicht dem deutschen Discounter zu liefern. Lidl gelangte an die Wettbewerbskommission. Kürzlich polterte und zeterte auch Migros-Chef Herbert Bolliger über Aldi und Lidl.
Der Preiskampf der beiden deutschen Eindringlinge sei «übel und brutal» und der «volkswirtschaftliche Schaden enorm», regte sich Bolliger in einem Interview in der Zeitung «Sonntag» auf. Der Migros-Chef schlug dabei gar klassenkämpferische Töne an: «Die Besitzer von Aldi und Lidl werden immer reicher und drücken auf Kosten der Produzenten und Mitarbeiter permanent die Preise.»
Migros-Gründerzeit: Bespitzelte und beschimpfte Kunden
Kurzfristig seien die Preissenkungen für die Konsumenten zwar positiv, sagt Bolliger, langfristig aber verheerend: «Der brutale Preiskampf vernichtet ganze Unternehmen und Existenzen.» Insbesondere bei den Bauern werde «noch der letzte Cent rausgewürgt». Der Migros-Chef wäre gut beraten gewesen, vor seinen Äusserungen einen Blick ins eigene Archiv zu werfen. Dabei hätte er erfahren, mit welch perfiden Mitteln Konkurrenten und Politiker gegen den Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler vorgegangen waren.
Blick zurück aufs Jahr 1925: Mit fünf fahrenden Läden auf Lastwagen, einem auf sechs lebensnotwendige Güter beschränkten Sortiment und runden Preisen leitet Duttweiler eine Revolution im Schweizer Detailhandel ein. Die Idee schlägt gross ein. Die Hausfrauen kommen scharenweise und kaufen die billigen Lebensmittel ein. In kürzester Zeit kann das Sortiment ausgeweitet werden. Doch ebenso schnell beginnt das Drama um die Migros: Die Gegner sind vom ersten Tag an aktiv.
Die Detailhändler und Markenartikelfabrikanten eröffnen die Gegenoffensive: Die Migros wird verleumdet und mit Lieferboykotten bestraft. Die Verbände der Fabrikanten verbieten ihren Mitgliedern, an die Migros zu verkaufen. Wer sich nicht fügt, wird ebenfalls boykottiert. Leute, die in der Migros einkaufen, werden bespitzelt, beschimpft oder in Zeitungen als «Verräter» namentlich an den Pranger gestellt.
Ein Landposthalter beklagt sich in einem Brief an die Migros, dass die Landbevölkerung seines Dorfes ihn nach einem Einkauf bei Migros boykottiere. Dadurch werde er schwer geschädigt, denn sein Lohn bemesse sich nach dem Verkehr in seinem Postbüro. Die Redaktionen werden von den Teigwaren-, Fett- und Seifenfabrikanten aufgefordert, keine Anzeigen von Migros mehr zu veröffentlichen. Kleinere Produzenten beliefern die Migros nur in der Nacht.
Vertreter des Detailhandels fotografieren sogar Migros-Kunden. Sind Beamte oder Handwerker darunter, werden diese mit Boykotten oder öffentlichen Anprangerungen belästigt. Migros-Gründer Duttweiler gibt jedoch nicht auf: Er veröffentlicht die Gratis-Zeitung «Migros-Brücke», in der er Preisvergleiche publiziert und so bei den Preisen für Transparenz sorgt. 1927 verbietet die Aargauer Regierung sogar die Verkaufswagen von Migros.
Gottlieb Duttweiler antwortet mit der Gründung eines Ladens in Aarau. Nach dem Zürcher Geschäft ist dies der zweite Migros-Laden in der Schweiz. In Baden hingegen ist Duttweiler kein Glück beschieden: Dort muss er den Verkaufsladen schliessen, weil das Gerücht gestreut wird, die Migros stehe «im Solde von Brown Boveri und wolle mit gesenkten Lebensmittelpreisen einem geplanten Lohnabbau den Weg ebnen». In anderen Städten wurden Migros-Wagen beschlagnahmt.
Migros und Coop: Dank hoher Margen jahrelang gut verdient
Eine turbulente Zeit, doch der Aufruhr der Migros-Gegner verhilft dem neuen Unternehmen zu grosser Publizität. Und die Kundschaft merkt trotz der Kampagne gegen den Neuling bald: Die Migros ist billiger und besser als die Konkurrenz. Die Leute kaufen weiter beim neuen Anbieter, der Umsatz steigt. Duttweilers Idee ist nicht mehr zu stoppen.
Zurück ins Jahr 2010. Die Migros ist fest etabliert. Sie gilt neben der Post und den SBB als Inbegriff für ein typisch schweizerisches Erfolgsunternehmen. Für die Tiraden von Migros-Chef Herbert Bolliger sieht Wirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger keine Gründe. Dass günstigere Preise der Schweizer Volkswirtschaft schaden sollen, wie Bolliger behauptet, kann der Experte der Universität Freiburg nicht verstehen. Es sei im Gegenteil so, «dass höhere Lebensmittelpreise verheerende Folgen für die Volkswirtschaft» hätten.
Überhaupt sorge sich Bolliger «weder um die Volkswirtschaft noch um die Konsumenten». Er betreibe Interessenvertretung. Jahrzehntelang hätten Migros und Coop überhöhte Preise von den Konsumenten verlangt, sagt Eichenberger. Dies hätte den beiden Detailhändlern überdurchschnittlich hohe Gewinne eingebracht.
Discounter Aldi und Lidl treiben Preisreduktionen voran
Der Markteintritt von Aldi und Lidl in der Schweiz bringe langfristig 20 bis 30 Prozent tiefere Preise, ist Eichenberger überzeugt: «Das hat die Migros jetzt erkannt. Nun wird versucht, gezielt den Ruf von Aldi und Lidl zu schädigen, um zu verhindern, dass die Preise allzu schnell fallen.» Gerade im vergangenen Jahr spürte hauptsächlich die Migros die Konkurrenz der beiden Hard-Discounter aus dem Nachbarland Deutschland. Der orange Riese verkaufte zwar mengenmässig mehr, die Preise waren aber im Schnitt günstiger als 2008.
Qualität und Löhne im Vergleich: Aldi und Lidl schneiden unter den Grossverteilern nicht schlecht ab
Zwei Hauptvorwürfe sind es, die dem Markteintritt von Aldi und Lidl vorauseilten: Die Gewerkschaften befürchteten Lohndumping, die Konkurrenz unterstellte schlechtere Warenqualität. Doch eine Erhebung des «Tages-Anzeigers» von Anfang Jahr zeigt: Aldi und Lidl sind im Vergleich keine schlechteren Arbeitgeber. Und die Warentests von saldo belegen: Aldi und Lidl sind häufig ganz vorne mit dabei. Die Fakten:
- Löhne: Ungelernte 20-Jährige verdienen bei Denner mit 3850 Franken am besten. Berücksichtigt man aber, dass sie dafür 44 Stunden pro Woche arbeiten, resultieren Fr. 21.90 Stundenlohn – weniger als Migros, Coop, Lidl und Manor zahlen, aber mehr als Spar. Aldi gibt keine Anfangslöhne bekannt, sie sollen aber über 4000 Franken liegen. Nach zwei Jahren Anstellung erhalten Ungelernte im Minimum 4162 Franken.
- Ferien: Hier ist Lidl mit 5 Wochen für alle Altersklassen knausrig. Am grosszügigsten ist Denner mit 6 Wochen für alle. Wer über 63 ist, hat es bei Coop mit 8 Wochen am besten. Die Migros gibt ab 21 Betriebsjahren altersunabhängig 6 Wochen Ferien, ab 31 sogar 7.
- Einkaufsrabatte für Mitarbeiter: Am grosszügigsten ist hier Manor mit 10 bis 25 Prozent, je nach Warengruppe. 10 Prozent aufs gesamte Sortiment gibt Spar. Coop gibt auf Non-Food 10 Prozent, auf Food fünffache Superpunkte. Lediglich doppelte bis vierfache Cumulus-Punkte erhält das Personal bei der Migros – auch die sind beim Einkaufen aber bares Geld wert. Denner gewährt zweimal im Jahr einen 10-Prozent-Gutschein, Aldi und Lidl geben gar keinen Personalrabatt.
- Testresultate: In den saldo-Tests erhielt Aldi 2007 und 2008 Bestnoten für Rasierschaum, Badezusatz und Duschmittel. Weniger erfreulich die Resultate im 2009: Die Tages- und Nachtcremes von Aldi bekamen nur die Note «genügend», genau wie die Hand- und Fusscremes.
Die Lebensmittel von Aldi schnitten unterschiedlich ab: Dosen-Tomaten, Dosen-Thunfisch und Ketchup belegten vordere Ränge. Rohschinken, Fertigsalat und Vanille-Joghurt waren weit hinten klassiert. Ebenso die Aldi-Schokolade «Noir Ecuador», in der das Labor eine grössere Menge des Nierengifts Kadmium fand. Urteil: «ungenügend».
In vier Tests hat saldo sowohl Lidl- als auch Aldi-Produkte geprüft – jedes Mal schnitt Lidl besser ab. So auch im Schokoladen-Test. Hier erhielten die Lidl-Schokoladen Ecuador und Crémant intense die Note «genügend». Im Fruchtsaft-Test konnte sich Lidl mit seinem Vitafit Multivitamin vor Aldis Rio d’Oro Multivitamin rangieren. Lidls Handcreme Iseree schnitt besser ab als Aldis Hand Care Q 10 und bekam ein «gut».
Letztes Jahr schaffte es ein Lidl-Produkt sogar auf den saldo-Titel: Die Iseree Nachtcreme erhielt als einziges der getesteten Produkte die Note «sehr gut». Weniger eindeutig fällt der Vergleich von Aldi- und Lidl-Produkten mit den Eigenmarken von Coop und Migros aus. Je nach Produkt schlagen die Discounter die Schweizer Grossverteiler – oder unterliegen. Dagegen zeigt sich, dass die günstigen Eigenmarken von Coop und Migros häufig besser abschneiden als die Markenprodukte von Multis wie Nestlé, L’Oréal oder Procter & Gamble.